Carre, John le
die Musik wieder
einsetzt. Achtundvierzig Stunden lang hatte er Tag und Nacht an nichts anderes
zu denken gehabt, als an diesen Augenblick: jetzt. Hinter dem Steuer seines
Lasters hatte er wachsam auf die Straße gestarrt und sich zwischen kurzen
Blicken auf die Photos von Frau und Töchterchen hinter dem Rückspiegel die
vielen Dinge vorgestellt, die katastrophal schiefgehen konnten. Er wußte, daß
er eine Begabung für Katastrophen hatte. Während der seltenen Kaffeepausen
hatte er die Orangen ein Dutzendmal aus- und wieder eingepackt, den gelben
Umschlag längs daraufgelegt, quer- nein, dieser Winkel ist besser, günstiger,
man kann dann leichter herankommen. Am Stadtrand hatte er sich Münzen besorgt,
um das Fahrgeld abgezählt bereit zu haben - wenn der Schaffner ihn nun
aufhielte, in ein müssiges Gespräch verwickelte? Die Zeit war so knapp bemessen
für das, was er tun mußte! Er hatte sich überlegt, daß er nicht deutsch
sprechen würde. Er würde irgendetwas brabbeln, lächeln, wortkarg sein,
abbittende Gesten vollführen, aber stumm bleiben. Oder er würde einige seiner
estnischen Wörter von sich geben - einen Bibelvers, der ihm noch von seiner
protestantischen Kindheit im Gedächtnis geblieben war, ehe sein Vater darauf
bestand, daß er russisch lerne. Aber jetzt, wo der Augenblick so nah war,
bemerkte der junge Mann, daß sein Plan einen Haken hatte. Wenn nun die
Mitreisenden ihm zu Hilfe kamen? Im polyglotten Hamburg, nur wenige Kilometer
vom Osten entfernt, konnten sechs x-beliebige Leute mit ebenso vielen Sprachen
aufwarten! Besser den Mund halten, keine Miene verziehen.
Wenn
er sich bloß rasiert hätte! Wenn er bloß weniger auffällig aussähe!
In
der Hauptkabine des Schiffes sah der junge Mann niemanden an. Er hielt die
Augen gesenkt ; Augenkontakt vermeiden, hatte der General befohlen. Der
Schaffner plauderte mit einer alten Dame und nahm keine Notiz von ihm. Er
wartete nervös, versuchte, ruhig auszusehen. Er hatte den Eindruck von unterschiedslos
mit grünen Filzhüten und grünen Mänteln angetanen Frauen und Männern, die ihn
einhellig mißbilligten. Jetzt war er an der Reihe. Er hielt seine feuchte
Handfläche hin. Eine Mark, ein Fünfzigpfennigstück, ein paar Zehnpfennigmünzen.
Der Schaffner bediente sich wortlos. Linkisch tappte der junge Mann zwischen
den Sitzen zum Heck. Der Landungssteg bewegte sich weg. Sie halten mich für einen
Terroristen, dachte der junge Mann. Seine Hände waren mit Motoröl beschmiert,
und er wünschte, er hätte es abgewischt. Vielleicht ist auch welches auf meinem
Gesicht. Keine Miene verziehen, hatte der General gesagt. Abseits
halten. Nicht lächeln, nicht finster dreinschauen. Normal verhalten. Er sah
auf die Uhr, mit einer bemüht langsamen Bewegung. Er hatte schon vorher den
linken Ärmelbund hochgerollt, um die Uhr freizumachen. Obwohl er nicht groß
war, duckte er sich zusammen, als er plötzlich im Heckteil ankam, das im Freien
lag und nur mit einem Sonnendach überdeckt war. Es war eine Sache von Sekunden.
Nicht mehr von Tagen oder Kilometern; nicht mehr von Stunden. Sekunden. Der
Stoppzeiger seiner Uhr rückte über die Sechs. Wenn er das nächste Mal die
Sechs erreicht, dann los. Eine Brise hatte sich erhoben, doch er spürte sie
kaum. Die Zeit war ein gräßliches Problem für ihn. Er wußte, wenn er aufgeregt
war, verlor er jeden Zeitsinn. Er befürchtete, der Sekundenzeiger könne, eh er
es merkte, eine Doppelrunde drehen und so zwei Minuten zu einer raffen. Im
Heckteil waren alle Sitze frei. Er steuerte ruckweise auf die allerletzte Bank
zu, wobei er den Korb mit den Orangen in beiden Händen vor seinem Magen und die
Zeitung in die Achselhöhle geklemmt hielt: Ich bin's, entziffert meine
Signale. Er kam sich idiotisch vor. Die Orangen waren viel zu auffällig. Warum
um alles in der Welt sollte ein unrasierter junger Mann im Trainingsanzug einen
Korb voll Orangen und die gestrige Zeitung herumtragen? Das ganze Schiff mußte
aufmerksam geworden sein! »Herr Kapitän - dieser junge Mensch - dort drüben
-, das ist ein Bombenleger. Er hat eine Bombe in seinem Korb, er will uns
entführen oder das Schiff versenken!« Ein Paar stand Arm in Arm mit dem Rücken
zu ihm an der Reling und starrte in den Dunst. Der Mann war winzig, kleiner als
die Frau. Er trug einen schwarzen Mantel mit Samtkragen. Sie beachteten ihn
nicht. So weit nach hinten setzen, wie es irgend geht; direkt an den
Mittelgang, hatte der General gesagt. Er setzte sich und betete zu
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