Carre, John le
Gott,
daß es beim erstenmal klappen möge und keine der Ausweichlösungen nötig sein
würde. »Beckie, ich tu es für dich«, flüsterte er im stillen und dachte an
seine Tochter, während er sich die Worte des Generals ins Gedächtnis zurückrief.
Trotz seiner protestantischen Herkunft trug er unter dem Reißverschluß seiner
Jacke ein Holzkreuz, ein Geschenk seiner Mutter. Warum hielt er es versteckt?
Damit Gott nicht Zeuge seines Wortbruchs werde? Er wußte es nicht. Er wollte
nur wieder fahren, nichts als fahren, bis er umfiele oder sicher zu Hause
wäre. Nirgends hinsehen, hatte der General gesagt. Er solle nirgends
anders als gerade vor sich hinsehen: Du bist der passive Partner. Du hast
weiter nichts zu tun, als die Gelegenheit zu liefern. Keine Parole, nichts; nur
den Korb mit den Orangen und den gelben Umschlag und die Zeitung unterm Arm. Ich
hätte mich nie darauf einlassen dürfen, dachte er. Ich bringe das Leben meiner
Tochter Beckie in Gefahr. Stella wird mir nie verzeihen. Ich verliere meine
Staatsbürgerschaft, ich riskiere Kopf und Kragen. Tu's für unsere Sache, hatte
der General gesagt. General, ich habe keine: Es ist nicht meine Sache, es ist
die Ihre, es war die meines Vaters, darum werfe ich jetzt die Orangen über
Bord. Aber er tat es nicht. Er legte die Zeitung neben sich auf die Lattenbank
und sah, daß sie verschwitzt war - daß die Druckerschwärze an den Stellen, wo
er sie umklammert hatte, abgegangen war. Er schaute auf die Uhr. Der
Sekundenzeiger wies auf die Zehn. Sie ist stehengeblieben! Fünfzehn Sekunden,
seit ich das letzte Mal hingesehen habe - das ist schlicht unmöglich! Ein
hektischer Blick aufs Ufer zeigte ihm, daß sie bereits in der Mitte der Alster
waren. Wieder schaute er auf die Uhr und sah den Sekundenzeiger die Elf
überspringen. Idiot, dachte er, beruhige dich. Er beugte sich nach rechts, tat,
als läse er die Zeitung, während er das Zifferblatt seiner Uhr nicht aus den
Augen ließ. Terroristen. Nichts als Terroristen, dachte er, als er zum zwanzigstenmal
die Schlagzeilen sah. Kein Wunder, daß die Passagiere mich auch für so einen
halten. Großfahndung. Er wußte, was das hieß und staunte selbst darüber,
daß er noch soviel Deutsch konnte. Tu's für unsere Sache.
Der
Korb mit den Orangen lehnte in labilem Gleichgewicht an seinen Füßen. Wenn
du aufstehst, stell den Korb auf die Bank, um deinen Platz zu belegen, hatte
der General gesagt. Wenn er aber umfällt? In seiner Phantasie sah er die
Orangen übers ganze Deck kullern, sah den offenen gelben Umschlag die Fotos
überallhin verstreuen, alles Aufnahmen von Beckie. Der Sekundenzeiger rückte
über die Sechs. Er stand auf. Jetzt. Er fror in der Magengegend. Er zog
die Jacke hinunter und brachte dadurch unabsichtlich das Holzkreuz seiner
Mutter zum Vorschein. Er zog den Reißverschluß hoch. Schlendern. Nirgendwo
hinsehen. Den Träumer spielen, hatte der General gesagt. Dein Vater
hätte nicht einen Augenblick gezögert, hatte der General gesagt. So
wenig, wie du zögern wirst. Behutsam hievte er den Korb auf die Bank,
balancierte ihn mit beiden Händen aus und kippte ihn leicht gegen die
Rückenlehne, um ihm zusätzlichen Halt zu geben. Dann prüfte er die
Standfestigkeit. Und jetzt das Abendblatt. Sollte er es mitnehmen oder
liegenlassen? Vielleicht hatte sein Kontakt das Signal noch nicht gesehen? Er
hob die Zeitung auf und klemmte sie unter den Arm.
Er
ging in die Hauptkabine zurück. Ein zweites Paar war auf dem Weg zum Heck,
wahrscheinlich, um Luft zu schnappen, älter, sehr gesetzt. Das erste Paar
hatte sexy ausgesehen, selbst von hinten - der kleine Mann, das gutgewachsene
Mädchen, beide richtig schmuck. Ein Blick genügte, um zu wissen, daß sie im
Bett Spaß aneinander hatten. Das zweite Paar kam ihm wie ein Polizistengespann
vor; der junge Mann war überzeugt, daß bei ihnen von Spaß keine Rede sein
konnte. Wohin gehen meine Gedanken? fragte er sich verwirrt. Zu meiner Frau
Stella, war die Antwort. Zu den langen köstlichen Umarmungen, mit denen es
jetzt vielleicht für immer vorbei war. Schlendernd, wie man es ihm anbefohlen
hatte, bewegte er sich durch den Gang hin zu der Absperrung, wo der Kapitän
saß. Niemanden anzusehen, war leicht; die Passagiere drehten ihm den Rücken zu.
Er war soweit nach vorne gegangen, wie es den Fahrgästen erlaubt war. Geh
zum Fenster des Kapitäns und bewundere die Aussicht. Bleib genau eine Minute
dort. Das Kabinendach war hier niedriger; er mußte sich bücken.
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