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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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der zahlreich vorhandenen Ikonen.
Selbst wenn sie ihr form- und knopfloses Nachtgewand trug, spannten ihre Brüste
den Stoff zu einem steilen Grat, und niemand, nicht einmal die
Eifersüchtigsten, nicht einmal Felicitas-Felicitas, die eigentlich
>Hoffnung< hieß, konnte sie daran hindern, wie ein Filmstar auszusehen.
Wenn sie sich die Kleider vom Leib riß, dann starrten die Nonnen sie in einer
Art begehrlichem Schauder an. Nur die Amerikanerin hatte es an Schönheit mit
ihr aufnehmen können, aber die Amerikanerin war weggebracht worden, sie war zu
schlimm gewesen. Die Französin war schon schlimm genug mit ihrem
Entkleidungsfimmel, ihrer Pulsadernaufschneiderei, ihren Wutanfällen gegenüber
Felici-
    tas-Felicitas - aber das war alles
nichts im Vergleich zu dem, was die Amerikanerin getrieben hatte, bevor sie
wegging. Die Schwestern hatten Kranko aus dem Pförtnerhaus holen müssen, damit
er sie zur Verabreichung einer Spritze niederhielte. Sie hatten dazu den
ganzen restlichen Flügel räumen lassen müssen, doch als der Kastenwagen die
Amerikanerin wegbrachte, war es wie ein Todesfall in der Familie gewesen, und
Schwester Béatitude hatte während der ganzen Morgenandacht geweint und später,
als Alexandra sie drängte, alles zu erzählen, hatte Schwester Béatitude sie bei
ihrem Kosenamen genannt, ein sicheres Zeichen von Verzweiflung.
    »Die Amerikanerin ist nach Untersee
gegangen«, hatte sie auf Drängen Alexandras unter Tränen gesagt. »Oh, Sascha,
Sascha, versprich mir, daß du nie nach Untersee gehen wirst.« So wie man sie in
dem Leben, von dem sie nicht sprechen durfte, gebeten hatte: »Tatjana, du
darfst diese verrückten und gefährlichen Dinge nicht tun!«
    Danach war >Untersee< für
Alexandra zum schlimmsten Schreckgespenst geworden, zu einer Drohung, die sie
jederzeit zur Räson bringen konnte, auch wenn sie noch so ungebärdig war: »Wenn
du böse bist, kommst du nach Untersee, Sascha. Wenn du Herrn Doktor Rüedi
ärgerst, vor ihm deinen Rock hochziehst und die Beine übereinanderschlägst, muß
dich Mutter Felicitas nach Untersee schicken. Ruhig, oder du kommst nach
Untersee.«
    Die Schritte kamen wieder den Flur
zurück. Die Französin wird zum Anziehen gebracht. Manchmal wehrte sie sich
dagegen und landete in der Zwangsjacke. Manchmal ließ man Alexandra holen,
damit sie das Mädchen beruhigen solle. Sie kämmte dann wortlos der Französin
das Haar, solange, bis das Mädchen sich entspannte und anfing, ihr die Hände zu
küssen. Dann wurde Alexandra fortgeschickt, denn Liebe stand nicht, stand
keineswegs, stand unter gar keinen Umständen auf dem Lehrplan. Die Tür flog
auf und Alexandra hörte Felicitas-Felicitas' artige Stimme, die sie mahnte wie
ein altes Kindermädchen in einem russischen Stück:
    »Sascha! Du mußt sofort aufstehen!
Sascha, wach sofort auf! Sascha, wach auf! Sascha!«
    Sie kam einen Schritt näher.
Alexandra fragte sich, ob sie wohl die Decke wegreißen und sie aus dem Bett
ziehen würde. Mutter Felicitas konnte, trotz ihres aristokratischen Bluts, rauh
sein wie ein Soldat. Sie war kein Tyrann, verstand aber keinen Spaß und war
schnell eingeschnappt.
    »Sascha, du kommst zu spät zum
Frühstück. Die anderen Mädchen werden auf dich schauen und lachen und sagen,
daß wir dummen Russen immer zu spät dran sind. Sascha? Sascha, willst du die
Morgenandacht versäumen? Gott wird sehr böse auf dich sein, Sascha. Er wird
traurig sein, und Er wird weinen. Vielleicht muß Er sich auch überlegen, wie Er
dich bestrafen soll.«
    Sascha, willst du nach Untersee
kommen?
    Alexandra drückte die Lider noch
fester zu. Ich bin sechs Jahre alt, und ich brauche meinen Schlaf, Ehrwürdige
Mutter. Gott, mach mich fünf Jahre alt, Gott, mach mich vier. Ich bin drei
Jahre alt und brauche meinen Schlaf.
    »Sascha, hast du vergessen, daß
heute dein besonderer Tag ist? Sascha, hast du vergessen, daß heute dein Besuch
kommt?«
    Gott, mach, daß ich zwei Jahre alt
bin, Gott, mach, daß ich ein Jahr alt bin, Gott, mach, daß ich nichts bin und
ungeboren. Nein, ich habe meinen Besuch nicht vergessen, Ehrwürdige Mutter. Ich
hab' an meinen Besuch gedacht vor dem Einschlafen, ich hab' von ihm geträumt,
ich hab' an nichts anderes gedacht, seit ich wach bin. Aber, Ehrwürdige
Mutter, ich will meinen Besuch heute nicht und auch an keinem anderen Tag, ich
kann nicht, ich kann mein Leben nicht in die Lüge zwingen, ich weiß nicht, wie
ich das machen soll, und darum will ich nicht, will ich ganz und gar

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