Carre, John le
besondere Vergünstigung erlaubt, an dem Fest teilzunehmen: Ihr erstes,
und zu ihrem großen Gaudium galt es, die gemeine Zwiebel zu feiern. Sie hatte
zwischen Schwester Ursula und Schwester Béatitude gestanden, und sie wußte,
daß beide scharf aufpaßten für den Fall, daß sie, Alexandra, versuchte
auszureißen oder daß sie ins Haus zurückrennen und verrückt spielen würde, und
sie ließ eine Stunde langweiligster Ansprachen über sich ergehen, dann eine
Stunde Gesang, begleitet von schmetternder militärischer Blechmusik.
Anschließend ein Vorbeimarsch von Leuten in Dorftracht, die Ketten von Zwiebeln
an langen Stöcken trugen, allen voran der Fahnenschwinger, der an gewöhnlichen
Tagen die Milch zum Pförtnerhaus und, wann immer er daran vorbeiwischen
konnte, zum Tor des Heims brachte, in der Hoffnung, eines der Mädchen durch das
Fenster zu sehen, oder vielleicht war es auch Alexandra, die versuchte, ihn zu
sehen.
Nachdem die Dorfglocken sechs Uhr
geläutet hatten, beschloß Alexandra, in den tiefsten Tiefen ihres Bettes die
Sekunden bis in alle Ewigkeit zu zählen. In ihrer selbstauferlegten Rolle als
Kind hatte sie vor sich hingewispert: >eintausendund eins , eintausendund zwei. Um zwölf Minuten nach sechs, nach ihrer kindlichen Berechnung, hörte sie,
wie die Oberin Felicitas auf dem Rückweg von der Messe mit ihrem Prachtmoped
die Anfahrt hinaufschnurrte und dabei jedem verkündete, daß
Felicitas-Felicitas -pop-pop - und niemand sonst - pop-pop - unsere Direktorin
und die offizielle Ingangbringerin des Tages war: Niemand sonst - pop-pop -
hatte das Zeug dazu. Sie hieß komischerweise gar nicht Felicitas, diesen Namen
trug sie für die anderen Nonnen. Ihr eigentlicher Name war, wie sie Alexandra
als Geheimnis anvertraut hatte, Nadezhda, was >Hoffnung< bedeutet.
Alexandra hatte dafür Felicitas gesagt, daß ihr eigentlicher Name
Tatjana sei und nicht Alexandra: Alexandra sei ein neuer Name, erklärte
sie, den sie sich speziell für die Schweiz zugelegt habe. Doch Felicitas-Felicitas
hatte scharf erwidert, sie solle kein dummes Ding sein.
Nach der Ankunft von Mutter
Felicitas hatte Alexandra die weiße Bettdecke bis zu den Augen hochgezogen und
beschlossen, daß die Zeit still stehen solle, daß sie ein Kind sei in einem
weißen Kinderreich, wo alles schattenlos war, selbst Alexandra, selbst Tatjana.
Weiße Lampen, weiße Wände, ein weißes, eisernes Bettgestell. Weiße Heizkörper.
Durch die hohen Fenster weiße Berge vor einem weißen Himmel.
Herr Dr. Rüedi, dachte sie, hier
ist ein neuer Traum für unser nächstes Donnerstagsgespräch, oder ist es
Dienstag?
Hören Sie gut zu, Herr Doktor.
Reicht Ihr Russisch dazu aus? Manchmal behaupten Sie, mehr zu verstehen, als in
Wirklichkeit der Fall ist. Schön, ich fange an. Ich heiße Tatjana, und ich
stehe in meinem weißen Nachthemd vor der weißen Alpenlandschaft, versuche mit
der weißen Kreide von Felicitas-Felicitas, deren wirklicher Name Nadezhda ist,
auf die Bergwand zu schreiben. Ich trage nichts darunter. Sie behaupten, sich
aus solchen Dingen nichts zu machen, aber wenn ich Ihnen erzähle, wie sehr ich
meinen Körper liebe, dann sind Sie ganz Ohr, nicht wahr, Herr Dr. Rüedi? Ich
kritzle mit der Kreide auf die Bergwand. Ich drücke darauf, wie mit einer
Zigarette, die man ausmacht. Ich denke an die schmutzigsten Wörter, die ich
kenne - jawohl, Herr Doktor Rüedi, dieses Wort, jenes Wort, doch
ich fürchte, daß sie in Ihrem russischen Wortschatz fehlen -, ich versuche, sie
hinzuschreiben, aber weiß auf weiß, was kann ein kleines Mädchen schon
bewirken, ich frage Sie, Herr Doktor?
Herr Doktor, es ist furchtbar, Sie
dürfen nie meine Träume haben. Wissen Sie, daß ich einst eine Hure war, namens
Tatjana? Daß ich kein Unrecht tun kann? Daß ich Dinge in Brand stecken kann,
auch mich selbst, den Staat schlecht machen und trotzdem von der weisen
Obrigkeit nicht bestraft werde? Daß man mich statt dessen durch die Hintertür
hinausläßt - geh, Tajana, geh.
Wußten Sie das?
Als sie Schritte auf dem Flur
hörte, kroch Alexandra noch tiefer unter die Decke: Die Französin wird auf die
Toilette geführt, dachte sie. Die Französin war das schönste Mädchen des Heims.
Alexandra liebte sie, wegen ihrer Schönheit. Die Französin hob damit das ganze
System aus den Angeln. Selbst wenn sie in die Zwangsjacke gesteckt wurde - weil
sie sich selbst verkratzt oder besudelt oder irgendetwas zerbrochen hatte -
schaute ihr Engelsgesicht sie an wie eine
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