Carte Blanche - Ein Bond-Roman
andere Seite.
Er musste abermals an den bevorstehenden Abend denken.
Sie fuhren auf ihrer komplizierten Route weiter. Dabei ging es nicht um irgendwelche Sehenswürdigkeiten. Nein, dieser Umweg war Dunnes Idee gewesen, aus Sicherheitsgründen. Dabei lag ihr Ziel nur acht Kilometer vom Intercontinental entfernt.
Doch der Fahrer – ein Söldner mit praktischen Erfahrungen in Afghanistan und Syrien – berichtete: »Ich dachte erst, man würde uns folgen, ein Alfa und eventuell ein Ford. Aber falls es so war, konnten wir sie abschütteln, da bin ich mir sicher.«
Dunne blickte über die Schulter. »Gut«, sagte er dann. »Fahren Sie zu der Fabrik.«
Sie machten in großem Bogen kehrt und erreichten zehn Minuten später einen Industriekomplex in Deira, dem unübersichtlichen und lebhaften Viertel im Zentrum der Stadt zwischen Dubai Creek und dem Golf. Auch hier fühlte Hydt sich sofort wohl. Es war wie eine Zeitreise: Die windschiefen Gebäude, traditionellen Märkte und der schmucklose Flusshafen, an dessen Anlegern sich zahllose Dauen und andere kleine Schiffe drängten, hätten sich gut als Kulisse für einen Abenteuerfilm geeignet, der in den 1930er-Jahren spielte. Auf den Kähnen waren unglaublich hohe Stapel Fracht verzurrt. Der Fahrer fand das gewünschte Ziel, einen Gebäudekomplex, bestehend aus einer Fabrik mittlerer Größe sowie einem Lagerhaus und angegliederten Büros, eingeschossig, mit abblätterndem Anstrich in schäbigem Beige. Der Maschendrahtzaun, der das Gelände umgab, war zusätzlich mit Stacheldraht gesichert, was in Dubai angesichts der wenigen Straftaten nur selten vorkam. Der Fahrer hielt nun an einer Gegensprechanlage und sagte etwas auf Arabisch. Das Tor schwang gemächlich auf. Das Town Car rollte auf den Parkplatz und hielt an.
Die beiden Männer stiegen aus. Fünfundsiebzig Minuten vor Sonnenuntergang wurde die Luft allmählich kühler, wenngleich der Boden die tagsüber gespeicherte Hitze weiterhin abgab.
Die Staubschwaden trugen eine Stimme an Hydts Ohr. »Bitte! Mein Freund, bitte treten Sie ein!« Der Mann, der ihn zu sich winkte, trug eine weiße Dischdascha – das für die Emirate typische lange Gewand – und keine Kopfbedeckung. Er war Mitte fünfzig, wusste Hydt, obwohl er, wie viele Araber, jünger aussah. Ein intelligentes Gesicht, modische Brille, westliche Schuhe. Sein recht langes Haar war nach hinten gekämmt.
Mahdi al-Fulan kam zu ihnen, mitten durch die dünne Schicht aus rotem Sand, der über den Asphalt wehte und sich an Bordsteinen, Gehwegen und Hauswänden sammelte. Die Augen des Arabers strahlten, als wäre er ein Schuljunge, der gleich sein geliebtes Unterrichtsprojekt präsentieren würde. Was ja auch beinahe der Wahrheit entsprach, dachte Hydt. Ein schwarzer Bart rahmte das Lächeln des Mannes ein. Es hatte Hydt amüsiert zu erfahren, dass in einem Land, in dem sowohl Frauen als auch Männer normalerweise ihre Häupter verhüllten, Haartönungen schwer zu vermarkten waren, während Bartfärbemittel sich als wahre Verkaufsschlager erwiesen.
Sie reichten einander die Hände. »Mein Freund.« Hydt versuchte gar nicht erst, ihn auf Arabisch zu begrüßen. Er war sprachlich nicht allzu begabt und hielt es für eine Schwäche, etwas zu tun, das man nicht beherrschte.
Niall Dunne trat vor, wobei seine Schultern dank des watschelnden Gangs wie immer auf und ab hüpften, und begrüßte den Mann ebenfalls. Seine blassblauen Augen waren jedoch auf einen Punkt hinter dem Araber gerichtet. Dieses eine Mal hielt er nicht nach Gefahren Ausschau, sondern starrte verzückt durch das offene Tor in das Lagerhaus. Dort standen ungefähr fünfzig Maschinen in allen denkbaren Formen, aus blankem und lackiertem Stahl, Eisen, Aluminium, Karbonfaser … und wer weiß was noch. Leitungen ragten daraus hervor, Kabel, Bedienfelder, Lichter, Schalter, Rutschen und Fließbänder. Falls Roboter Wunschträume hätten, würden sie in dieser Halle spielen.
Sie betraten das Lagerhaus, in dem sich keine Arbeiter aufhielten. Dunne blieb stehen, um die Geräte genauer zu betrachten und das eine oder andere gar zu streicheln.
Mahdi al-Fulan war ein Industriedesigner und am MIT ausgebildet worden. Er mied die Art von öffentlichkeitswirksamen Projekten, mit denen man auf den Titelseiten der Fachpresse landet – und oft vor dem Konkursrichter –, und spezialisierte sich stattdessen auf den Entwurf funktioneller Industriemaschinen und Kontrollsysteme, für die es eine konstante Nachfrage
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