Caruso singt nicht mehr
nie in ihrem Leben so hilflos gefühlt.
4
»Kaffee?« fragte Anne in die Runde. Kosinski rief »Hier!« Rena sagte gar nichts. Sie hockte wie ein Häufchen Unglück neben dem Inspektor. Als wartete sie auf den Urteilsspruch. »Verdammt!« dachte Anne. »Er hat sie abgefangen.« Sie mochte den Kerl, wie sie sich längst eingestanden hatte – und warum nicht? Es gab ja schließlich auch anständige Bullen. Aber sie mochte es nicht, wenn er Rena quälte.
»Was steckt hinter Ellen?« fragte Anne, schon um vom wahrscheinlich Unvermeidlichen abzulenken. Ihr war etwas eingefallen, heute früh, beim Brotbacken.
Sie hatte Kosinskis ungeteilte Aufmerksamkeit. »Ich dachte, das könnten Sie mir sagen, Frau Burau?« sagte er gedehnt. Fast hätte Anne gebockt – sie mochte seinen herablassenden Ton nicht –, wenn sie nicht das verschwörerische Lächeln auf seinem Gesicht gesehen hätte. Wußte er, daß sie ablenken wollte?
Unwillkürlich lächelte sie zurück, während sie ihm den Kaffee und die Milch hinstellte und sich neben Rena an den runden Tisch setzte.
»Die Wohnung, in der sich Leo regelmäßig mit seinen Führungsoffizieren getroffen hat.« Ort und Tageszeit waren in den Treffberichten, die sie in ihrer Stasi-Akte gelesen hatte, stets genau verzeichnet gewesen. »Es war eine konspirative Wohnung. Und ich weiß nicht, warum die Typen sie so nannten: Aber die Wohnung hieß Ellen.«
»Hmmm«, sagte Kosinski und rührte in seiner Tasse. Ihm war das auch aufgefallen.
»Warum hat das MfS ausgerechnet einer Wohnung einen Frauennamen gegeben?«
Anne breitete ihre Hände aus und hob die Schultern. »Vielleicht hatte vorher eine Frau namens Ellen in der Wohnung gewohnt?«
»Schon möglich«, sagte Kosinski und sah Anne ins Gesicht. Er schien sich wenig für ihre Enthüllung zu interessieren, stellte sie fest. Die lange Pause wurde ungemütlich. »Aber warum«, fragte er endlich und ließ die Augen nicht von ihr, »warum, liebe Frau Burau, will Ihnen eigentlich partout Ellen Leinemann nicht mehr einfallen?«
Anne merkte, wie sie errötete. Ellen Leinemann! Warum zum Teufel hatte sie nicht an Ellen Leinemann gedacht? An die schöne Ellen, die sich ausgerechnet Leo anvertraute? Und dafür mit dem Tod gebüßt hat. Anne schüttelte sich. »Ellen«, sagte sie leise. »Ich habe Ihnen von Ellen erzählt.« Kosinski nickte. Als sie ihm ihre Akte gezeigt hatte. »Aber – sie ist doch tot!«
»Sie hat sich erhängt, in der Tat. In ihrer Gefängniszelle in Bautzen, an ihrem BH. Es muß ein gräßliches Sterben gewesen sein«, sagte Kosinski und streifte die Asche von seiner Zigarette. Anne verzog das Gesicht. Dieser Tod hatte sie damals schon schockiert.
»Ellen Leinemann wollte das gelobte Land verlassen«, resümierte Kosinski. »Zusammen mit ihrem Freund, einem russischen Künstler, der einen Paß hatte und ausreisen durfte. Die beiden wollten heiraten.«
»Ja«, sagte Anne. »Sie war so glücklich.« Sie erinnerte sich an das strahlende Lachen der schwarzhaarigen Frau, die sie eines Abends bei Frank Mathes getroffen hatten. Und plötzlich auch an das spöttische Grinsen von Leo, mit dem er sich das Glück im Gesicht seiner ehemaligen Liebsten betrachtet hatte. Wie eine Katze vorm Sprung, dachte sie erschrocken. Hätte ihr das damals nicht auffallen müssen?
»Sie machte den Fehler, das alles ihrem ehemaligen Liebhaber zu erzählen.«
»Leo Matern.«
»Der es prompt weitererzählte.« Kosinski betrachtete seine Hand mit dem Ehering und fragte sich, ob der nach all den Jahren überhaupt noch abgehen würde. Nach der Scheidung.
»Sie erhängte sich in ihrer Zelle, nachdem ihr Anwalt ihr weisgemacht hatte, ihr Verlobter habe sich in den Westen abgesetzt. Der sogenannte Rechtsanwalt handelte natürlich ebenfalls auf Anweisung aus dem MfS und ist heute eine Leuchte der Gesellschaft.« Gregor Kosinski verzog angeekelt den Mund. Manchmal wünschte er sich ein anderes Vaterland.
»Leo Matern ist für diesen Verrat ausgezeichnet worden – mit einer Geldprämie, in Devisen. In DM. Er hat sie auch noch ordnungsgemäß quittiert.«
Paul sah zu Anne hinüber. Sie mußte das alles gewußt haben.
»Ich habe mir die Akte eines gewissen Leo Matern kommen lassen. Aus Berlin. Von der Gauck-Behörde. Ein aufschlußreiches Dokument.«
Rena hing an Kosinskis Lippen, bemerkte Paul. Mit weitaufgerissenen Augen. Sie hatte offenbar nicht alles gewußt. Und womöglich nur geahnt, warum sie damals Kiel verlassen hatten. Sie tat Paul
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