Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
zwei Kilo Rindergulasch zu holen. In der Tür machte sie kurz die Augen zu. Hier hatte er gehangen. Ob sie den Anblick je vergessen würde?
    Sie gab sich einen Ruck, nahm das Fleisch aus dem Regal und schloß die Kühlkammer wieder. Dann stellte sie das Kofferradio an, das im Regal hinter der Theke im Hofladen stand und notierte den Warenpreis in ihrem Auftragsbuch. Die Radionachrichten paßten zur Stimmung, innen wie außen. Massenkarambolage mit mehreren Toten auf der Autobahn. Zwei frustrierte Väter entführen ihre Kinder. Blutige Auseinandersetzungen in Israel. Das Wetter: regnerisch, für die Jahreszeit zu kühl. Die weiteren Aussichten: Nach Auflösung örtlicher Nebelfelder vorübergehend sonnig. Das wäre ja mal was, dachte Anne. Schon seit Tagen versank der Weiherhof in dieser trüben, grauen Soße.
    Dieses Abgeschlossensein in einem grauen, wattigen Kokon verstärkte in ihr das bedrängende Gefühl, in Wirklichkeit eine Gefangene zu sein – eine Gefangene der Erinnerungen, die seit Leos Tod wieder auf sie einstürmten und die sie festhielten. Einwickelten. Einschweißten. Laß mich los, Leo, dachte sie, während sie sich im Wirtschaftsraum die Hände wusch. Ich ersticke. Wie eine Fliege im Bernstein, ging es ihr durch den Kopf. Sie merkte verwundert, wie passend ihr das Klischee erschien. Eingeschlossen in der Vergangenheit. Ohne Brücke in die Gegenwart. Niemals, dachte sie mit plötzlicher Traurigkeit, könnte sie jemandem erzählen, wie es anfing. Und wie es endete.
    »Und warum nicht?« fragte sie sich mit plötzlich aufsteigender Bitterkeit. »Weil die Erinnerung so weh tut? Oder weil es dein Stolz ist, der sich gekränkt fühlt, dein ganzer verdammter hochtrabender Stolz?«
    Fast spürte sie ein Gefühl der Erleichterung, als die Tür aufging – obwohl es sie eigentlich ärgern sollte, dachte sie flüchtig, daß er noch nicht einmal nötig gehabt hatte, sich vorher anzumelden. Inspektor Kosinski stand lächelnd im Türrahmen, im Schlepptau eine ganze Horde von Katzen. Die kleine Schwarzweiße sprang mit einem energischen Satz auf die Theke. Anne verscheuchte sie mit einem Klaps aufs Hinterteil.
    »Darf ich stören?« Kosinski tat verbindlich.
    Nein, hätte sie am liebsten gesagt. Aber im Grunde kam ihr die Ablenkung nicht ungelegen. Also nickte sie, ohne Begeisterung, und setzte sich an einen der Tische. »Gibt’s was Neues?« fragte sie.
    Die Autopsie hatte ergeben, daß Leo mit einer Drahtschlinge erwürgt worden war. »Es dürfte schnell gegangen sein«, sagte der Inspektor. Das sollte sie wohl trösten. In die Kühlkammer hatte man ihn erst danach gehängt. Nicht gerade überraschend. Der Tatort mußte sich nahe der Stelle befunden haben, an der der Weg zum Weiherhof auf die Landstraße mündete. Spuren hatten sich, vom Weg ab, hinter einer niedrigen Wildhecke gefunden. Todeszeitpunkt: am Morgen des Tages, an dem man Leo gefunden hatte. Zwischen vier und sechs Uhr früh. Kein Hinweis auf den oder die Täter.
    »Und wie ist es mit der Täterin, der potentiellen?« fragte sie den Inspektor. Kosinski lachte.
    »Sie sind doch eine intelligente Person«, sagte er.
    »Können Sie das überhaupt beurteilen?« gab sie schnippisch zurück.
    Kosinski lachte wieder. »Die erste Tatverdächtige ist immer die Ehefrau. Und wer hatte schon ein besseres Motiv als Sie, liebe Frau Burau?«
    Sie sah ihm in die grauen Augen. »Und was«, fragte sie leise zurück, »hätte mich dann damit so lange warten lassen?«
    »Sie meinen – seit 1991?«
    »Genau«, sagte Anne und sah ihn prüfend an. Was wußte er?
    »Das ist der Punkt«, nickte Kosinski. »Das habe ich mich auch gefragt.«
2
    Sie erinnerte sich nicht mehr, was sie aufgeweckt hatte. Aber sie roch es sofort. Sie hörte es. Und sie sah es – als flackernden Widerschein hinter der Gardine. Ihr Herz setzte aus – für ein, zwei Schläge. Mit zitternden Knien und einem ziehenden Schmerz in der Magengrube lief sie im T-Shirt die Treppe hinunter zur Kammer neben der Eingangstür, in der die Arbeitsklamotten hingen und die Gummistiefel, laut nach Rena rufend, die den verstrubbelten Kopf aus ihrem Zimmer streckte und verschlafen »Was ist?« fragte.
    »Es brennt«, schrie Anne. »Ruf die Feuerwehr an.«
    Sie lief in die Küche, riß ein Handtuch aus dem Schrank und hielt es unter das kalte Wasser. Dann rannte sie den gepflasterten Weg vom Wohnhaus hinunter zu den Scheunen und Wirtschaftsgebäuden. Dagobert, der Kettenhund, heulte. Der Rauch und der Widerschein

Weitere Kostenlose Bücher