Caruso singt nicht mehr
was«, murmelte Anne. Sie war gestern ungeduldig gewesen, zugegeben. Vielleicht auch etwas ungnädig. Aber das lag genausogut an Rena, die derzeit alles daransetzte, sich unbeliebt zu machen. Schon seit einer halben Stunde hatte sie ihre Musikanlage voll aufgedreht; selbst hier draußen hörte man die Bässe wummern. Anne weigerte sich, diese Klangfolgen überhaupt Musik zu nennen. Andererseits: Jede Generation ruinierte sich auf ihre Weise das Gehör. Aber muß es denn ausgerechnet Heavy Metal sein? dachte sie schlechtgelaunt und seufzte.
Rena war überhaupt ein bißchen seltsam in letzter Zeit. »Bist du verliebt?« hatte Anne sich vorgestern beiläufig erkundigt. »Quatsch«, war die einsilbige Antwort. »Wann kommt denn Alexander mal wieder vorbei?« hatte Anne, die es nicht lassen konnte, noch heute früh gefragt. »Weiß nicht«, lautete die um gerade mal eine Silbe ausführlichere Auskunft.
Anne gab sich einen Ruck und öffnete das Gatter zum Freigehege. Ein kleiner Trupp von Enten stürzte sich aufgeregt schnatternd in den Löschteich. Vielleicht hatte der Tod von Leo ihre Tochter ebenso mitgenommen wie sie selbst – »Schön, daß du das endlich mal zugibst!« kommentierte die innere Stimme. Rena hatte Leo zwar nie wie einen Vater akzeptiert. Aber ließ es ein junges Mädchen kalt, wenn der Stiefvater ermordet wurde?
Selbst Anne hatte ihm ein solches Schicksal nicht gewünscht, selbst in den schlimmsten Zeiten nicht, als sie ihn verflucht und verdammt hatte. Nein, das wirklich nicht: an den Fleischerhaken gehängt zu werden wie das Schlachtvieh. Wie ein Kadaver. Wie sehr mußte man jemanden hassen, um ihm so etwas anzutun! Hatte sie Leo jemals so gehaßt? Sie nahm die beiden Gänse an den Stelzen, die eine in die rechte, die andere in die linke Hand. Prüfend ließ sie ihren Blick über Wiese und Löschteich gehen. Die beiden Tiere schienen, soweit sie sehen konnte, die einzigen Opfer zu sein.
Hatte sie Leo gehaßt?
Anne drückte das Gatter mit dem Ellenbogen hinter sich wieder zu und ging müde hinunter zum kleinen Pferdestall. Es war eine seltsame, eine groteske Prozession: Im Grau eines trüben Morgens sah man eine schmale Gestalt mit hängenden Schultern den Weg entlanggehen, rechts und links ein schmutzigweißes Bündel in der Hand, gefolgt von einem kläffenden roten Setter, der begeistert nach den Köpfen der toten Vögel schnappte, die über den Boden schleiften. Sogar Anne hätte Mitleid bekommen, wenn sie sich so hätte sehen können. Sie warf die beiden Vogelleichen mit Schwung auf den Misthaufen hinter dem kleinen Pferdestall. Krysztof sollte sich um alles weitere kümmern.
Der Mord an Leo hatte alles wieder an die Oberfläche gespült, was sie so erfolgreich verdrängt hatte in den letzten Jahren. Anne starrte in den Nebel, der die Wiesen und Koppeln des Weiherhofs einhüllte und in dem ihre Charolais-Rinder, die hinter dem kleinen Pferdestall grasten, wie weiße Gespenster aussahen. Sie sog in tiefen Atemzügen die feuchte Luft ein. War das wirklich Anne Burau gewesen, diese kindlich verliebte Frau, die sich in Kiel für die glücklichste aller Ehefrauen hielt? Für unendlich beschenkt mit Kind, Mann und Karriere? Wie kann man nur so naiv sein, dachte Anne und beneidete im hintersten Eckchen ihres Kopfes die Frau, die sie damals gewesen war. Die Wahrheit machte nicht glücklicher. Und die große Ernüchterung machte nicht freier. Trotzdem würde sie sich nie verzeihen, daß sie nichts gemerkt hatte. Einfach all die Jahre über nichts gemerkt hatte. Obwohl es heute selbst dem Dümmsten auffallen würde.
Aber vielleicht konnte man damals tatsächlich nicht wissen, daß es Liebesbeziehungen gab, die in Wirklichkeit eine Staatsaktion waren.
Sie gab sich einen Ruck und ging zum Hofladen zurück. Es gab Gott sei Dank Arbeit. Das half fast immer. Aus der linken Kühlkammer holte sie einen Schweine- und einen Lammrücken. Schwungvoll warf sie die Tür hinter sich zu und hätte fast Sammy die Schnauze eingeklemmt, der ihr dahin hatte folgen wollen, woher es so anregend roch. Ein Kunde hatte zehn Schweinekoteletts und sechzehn Lammkoteletts bestellt. Sie parierte mit geübten Schnitten das Fleisch und stellte die Knochensäge an. Das helle Kreischen, mit der die Säge die Koteletts vom Knochen schnitt, hinterließ ein schmerzhaftes Echo in ihren Ohren. Sie schweißte die Fleischteile in dicke Plastikfolie ein, wog sie aus, legte sie beiseite und ging dann hinüber zur rechten Kühlkammer, um
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