Caruso singt nicht mehr
zum Teufel, hatte sie sich da eingelassen? Wieso trug der Mann, der ihr gegenübersaß und dessen Hand sie hielt, auf dem Arm ein Mal, mit dem man einen Toten regelrecht gebrandmarkt hatte? Plötzlich war ihr kühl. Mit gerunzelten Augenbrauen hob sie den Kopf und sah ihn scharf an.
Fast verlegen entzog er ihr seinen Arm. »Eine Jugendalbernheit, Karen. Es ist nicht wichtig.«
»Mir schon«, insistierte sie. »Ich möchte es wissen.«
»Es ist nichts«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Es ist nichts.«
Sie sah ihn lange an. Du siehst ein Bild, durchfuhr es sie wieder, nicht die Person.
»Sagt dir der Name Leo Matern etwas?« fragte sie ihn, mit plötzlich belegter Stimme. Sie fürchtete sich vor seiner Antwort.
»Wer soll das sein?« Sein Gesicht blieb ausdruckslos.
Sie fragte nicht nach. Und merkte noch, wie er sich langsam von ihr entfernte – mitsamt dem Gefühl, das sie eben noch geteilt hatten.
Schließlich ging er, sich das Kajal aus den Augen und den Puder vom Gesicht zu wischen, sich zu duschen, sich umzuziehen. »Warte auf mich«, sagte er, beschwörend. Und kam noch einmal zurück, nahm ihren Kopf in beide Hände und küßte ihren Mund. »Du gehst mir ans Leben«, flüsterte er.
Ein schrecklicher Satz, dachte Karen später. Den sie, wie einen Fluch, nie vergessen würde.
Karen saß eine halbe Stunde lang allein an ihrem Tisch in der Trapezbar, blickte in das Glas mit dem Rotwein, auf dessen Oberfläche Reste ihres Lippenstiftes Schlieren zogen, wenn sie das Glas leicht schwenkte. Sie stellte mit Verblüffung fest, daß ihr das Herz weh tat und sie weiche Knie hatte. »Das gibt es also, das lebendige Klischee«, kommentierte sie ihren Zustand sarkastisch. Bezahlte. Und ging.
8
Ein paar Sekunden lang wußte er nicht, wo er war. Daß er an einem Sonntagmorgen in Frankfurt aufwachte, schloß er schließlich aus der himmlischen Ruhe draußen. Bremer streckte sich. Es war so still, dachte er schlaftrunken. Zu still. Und plötzlich packte ihn die Sehnsucht nach dem Land – nach kreischenden Hähnen, heulenden Hunden, brüllenden Kühen und nach den ihren Hunden und Kindern hinterherrufenden Nachbarn. Er mußte nach Hause.
Paul stieg in seine Jeans und ging in die Küche, setzte Wasser auf, wärmte die Teekanne vor und rief Karen an. Wieder erwischte er nur ihren Anrufbeantworter. »Zum zigsten Mal«, dachte er, milde besorgt. »Wo steckt sie bloß?« Annes Nummer wählte er zur Hälfte und unterbrach die Verbindung dann wieder. Er würde einfach zu ihr fahren. Ohne vorher groß zu fragen, ob sie ihn auch zu sehen wünschte.
Er duschte, rasierte sich und packte das Rasierzeug in seine Reisetasche. Trank seinen Tee und wusch die Tasse unter dem Wasserhahn aus. Mit prüfendem Blick vergewisserte er sich, daß er die Wohnung halbwegs ordentlich hinterlassen hatte. Er hatte gestern aufgeräumt, das Klo repariert und den tropfenden Wasserhahn, das Bad geputzt, Wäsche gewaschen. Ihr könnt euch nicht beklagen, Jungs, dachte er, als er die Tür ins Schloß zog.
Gestern nachmittag, nach der Hausarbeit, hatte er kurz entschlossen Jochen Schilling angerufen, einen der wenigen gemeinsamen Freunde, die ihn auch nach der Trennung von Sibylle noch kennen wollten. Sie verabredeten sich in einer der schönsten Kneipen Frankfurts: in einer alten, traditionsbewußten Ebbelwoikneipe. Das war es, dachte Paul, was er an Frankfurt liebte – einer Stadt, die ihn ansonsten nur mäßig berührte: Hochhäuser mit Metropolenanmaßung. Und im Gegenzug dieser erstaunliche Hang zur Blauen-Bock-Geselligkeit – die guten Ebbelwoikneipen Frankfurts waren vergilbt und verraucht, preiswert, laut und immer voll.
Jochen hatte ihn erstaunt gemustert, als Bremer das Lokal betrat, fünf Minuten zu spät, weil er vergessen hatte, wie schwierig es war, in Sachsenhausen einen legalen Parkplatz zu finden.
»Das Landleben bekommt dir.«
»Findest du?« Paul war sich nicht sicher, ob das ein Kompliment sein sollte.
»Du siehst nicht mehr so explosiv aus.« Wie damals, kurz vor der Trennung von Sibylle. Als ihm das Unglück aus dem Gesicht gesprungen sein mußte.
Paul konnte kein Kompliment zurückgeben. Jochen, fand er, sah aus wie eh und je: ein bißchen dicklich, ein bißchen teigig im Gesicht, ein bißchen unglücklich, ein bißchen gelangweilt. Wie ein verbeamteter Intellektueller. Und das war er ja auch – als Professor an der Fachhochschule. Beamter lebenslänglich. Unkündbar. Prima Pensionsanspruch. Bist du neidisch?
Weitere Kostenlose Bücher