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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Feldweg zwischen Heckbach und Groß-Roda war an diesem Abend die alte Hanna unterwegs, schwankend auf ihrem Fahrrad, in der rechten Hand die Hacke, links am Lenker einen großen Eimer mit Kohlköpfen und Salat.
    Wie es genau geschehen war, wußte keiner. Man mußte sich auf Peters Aussage verlassen. Der beteuerte, er habe die alte Frau nicht angefahren. Und auch nicht mutwillig erschreckt. Sie sei schon ins Schlingern geraten, als er sich ihr von hinten auf dem Moped näherte und an ihr vorbeifuhr, nein, er sei nicht schnell gefahren, hatte der Junge versichert, und auch nicht sonderlich laut gewesen. Er habe sie im Rückspiegel fallen sehen.
    Peter hatte das Mofa auf den Wiesenrain fallen gelassen und war zurückgerannt, tief im Schock offenbar, hatte den Kopf der alten Frau auf seine Lederjacke gebettet und gewartet, bis sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Ob sie überlebt hätte, wenn er statt dessen um Hilfe gelaufen wäre? Niemand konnte das sagen. Kurze Zeit später wurde der Junge »auffällig«, wie die Schulpsychologen sagten. »Merkwürdig«, wie die anderen es nannten. Die meisten aus der Nachbarschaft hatten Mitleid mit ihm. Er war, sagten sie, durch den Tod der Hanna am meisten gestraft. Fürs Leben bestraft.
    Paul war langsam auf die schwankende Gestalt auf dem Fahrrad zugefahren. Erschrocken erkannte er Marie, Gottfrieds Frau. Tränenüberströmt trat sie in die Pedale, und fast wäre sie ihm ins Auto gefallen, als er anhielt, die Warnblinkanlage in Gang setzte und ausstieg.
    »Marie! Um Himmels willen …«
    Marie hatte ihr Fahrrad am Straßenrand fallen gelassen und schluchzte auf, während sie sich mit dem Strickjackenärmel die Augen wischte.
    »Was ist denn los?« Paul war ratlos. »Wo ist Gottfried?«
    »Ach der!«, schniefte Marie. »Der alte verrückte Kerl!«
    Noch nie hatte er Marie die Fassung verlieren sehen. Er sah sie besorgt an. Sie war nicht viel älter als der Frühpensionär Gottfried, das wußte er. Aber sie sah älter aus. Bei ihr hatte das Leben Spuren hinterlassen – auch das gute Leben: Ihre kleinen, beweglichen, brombeerschwarzen Augen umgab ein scharfer Strahlenkranz von Lachfältchen. Es war seltsam, sie weinen zu sehen – denn meistens lachte sie. Weshalb Bremer jede Lücke und schwärzliche Ruine in ihrem Gebiß kannte. Sie hielt nichts vom Zahnarzt. Und vor allem nichts von kostspieligen kosmetischen Maßnahmen, wo man doch bloß abzuwarten brauchte, bis der Zeitpunkt gekommen war für ein ordentliches und pflegeleichtes Gebiß. »Ach, das bringt doch nichts«, war einer ihrer Lieblingssätze, begleitet von einem verächtlichen Abwinken mit der linken Hand. War das geizig oder bescheiden? Wahrscheinlich beides, dachte Paul.
    Marie fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad nach Groß-Roda, zum Aushelfen im »Weißen Rössl«, einer Großraumlandgaststätte, wo die hiesigen Familien feierten, wenn es zur Sache ging: nach Hochzeiten oder bei Beerdigungen. Oder auch einfach nur, weil Sonntag war. Sie brauche eben »ein bißchen was zu tun«, behauptete sie. Bremer vermutete, daß sie die Rente aufbessern wollte, die Gottfried großzügig auf seine Hobbies verschwendete: das Züchten von preisverdächtigem Federvieh und mehrfach ausgezeichneten Stallhasen. Denn »ein bißchen was zu tun« hatte sie auch in Klein-Roda: Die Gass’ fegte Gottfried. Den Garten grub er um, und kleinere Reparaturarbeiten erledigte er selbst. Aber der ganze große Rest blieb Marie überlassen – kochen, waschen, backen. Gartenarbeit und Blumenpflege. Und vor allem putzen. Mit entsetzter Bewunderung hatte Paul in seinem ersten Jahr auf dem Land zur Kenntnis genommen, daß die Frauen des Dorfes täglich taten, was er höchstens dann machte, wenn es im Haus unübersichtlich zu werden drohte. Er haßte die ganze Putzerei. »Und auch noch mit all den Chemikalien – das kann gar nicht gesund sein«, hatte er einmal gegenüber Marianne argumentiert. Die hatte ihn nur mitleidig angesehen und »Vielleicht brauchst du eine Frau?« gefragt.
    Marie und Gottfried, daran glaubte Bremer fest, führten eine gute Ehe. Es sah so aus, als ob ihm auch dieser Glaube genommen werden sollte.
    »Der alte Spinner!« sagte Marie, noch immer unter Tränen.
    »Jetzt sag doch, was los ist«, drängte Paul.
    »Er ist seit gestern nicht nach Hause gekommen.« Marie guckte todtraurig und zornig zugleich. »Und jetzt ist der Hund weg.«
    »Der Alte Fritz?« fragte Paul alarmiert. Soweit er wußte, war der Hund in den vergangenen Jahren

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