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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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als Karen im »Trapez« eintraf. Ihr Freund Max Kohl brachte sie zu dem Sitzplatz, den sie am meisten schätzte: nicht mitten im Getriebe, unter der Kuppel des Varieté-Saales, wo sich die Zuschauer drängten, sondern hinten und etwas oberhalb, auf einer Lederbank direkt hinter der Balustrade, vis à vis der Getränkeausgabe und mit einem ungestörten Blick nach vorn. Max stellte ihr einen Weinkühler neben die Bank, öffnete die Flasche, goß ihr ein und flüsterte: »Viel Spaß.«
    Das neue Herbstprogramm hatte sie noch nicht gesehen. Eigentlich müßte sie sich darauf freuen. Aber mit Verwunderung stellte sie fest, daß sich ihre sonstige Begeisterung nicht einstellen wollte. Sie wartete auf David. Sie hatte Angst, gestand sie sich überrascht ein. Davor, daß er ihr nicht gefallen könnte.
    »Laß doch mal locker«, ermahnte sie sich, als sie merkte, daß sie ihr Weinglas viel zu schnell leerte. Es war ungerecht, die artistischen Leistungen all der anderen nicht zu würdigen: Die junge Elena Vanenka, eine zierliche, biegsame Person, jonglierte mit Unmengen von dem, was Karen in ihrer Jugend als Hulahoop kennengelernt hatte. In der Schlußszene umkreisten die Reifen den schmalen Körper von den Knöcheln bis zur Brust, so daß sie wie in eine glitzernde Schlangenhaut gehüllt dastand. Auch Oleg Issenko, den Karen von früheren Auftritten kannte, verdiente sich seinen Applaus redlich: Er war ein alter Profi, der seine Nummern fast noch gerissener verkaufte, als er jonglieren konnte.
    Das Publikum johlte vor Lachen – über irgendeinen Witz des Moderators, eines bekannten Frankfurter Kabarettisten, den sie nicht zuletzt deshalb schätzte, weil er ein gründliches Jurastudium hinter sich hatte. Denn nur Juristen wissen, wie komisch das Leben wirklich ist. Karen seufzte. Sie hatte die Pointe nicht mitgekriegt. »Sei mir nicht böse, Matthias, alter Freund«, murmelte sie und prostete ihm zu.
    Die Raubtiernummer war früher der Höhepunkt der Vorstellung gewesen. Karen ließen die zwei schon etwas vergreist wirkenden Tiger heute völlig kalt. Auch der Puma, der schlaff über der Schulter seines Dompteurs hing und sich willig durch den Zuschauerraum tragen ließ, damit seriöse Herren in teuren Anzügen ihm ins Fell fassen konnten, sah reichlich schütter aus. Das Tier gähnte ja vor Langeweile.
    Michel, der Anführer einer Truppe, die Harri Ebinger als seine »Service-Artisten« bezeichnete, stellte Karen einen Teller mit kleinen belegten Broten auf den Tisch.
    »Etwas müde heute, die Kätzchen, nicht?« Michel machte eine Katzenkralle.
    »Da haben wir beide aber mehr Temperament im kleinen Zeh«, flüsterte Karen zurück und ließ sich von ihm Wein nachschenken.
    Im Zuschauerraum, der immerhin ein Publikum von hundertsechzig Personen fassen konnte, begann jetzt das tägliche Ritual, das zum Ruhm des »Trapez« beigetragen hatte. Karen hatte Harri Ebinger immer dafür bewundert, daß es ihm offenbar gelungen war, die Sicherheitsfanatiker bei den deutschen Behörden auszutricksen. Einige artistische Darbietungen wurden nicht auf der Bühne, sondern fast über den Köpfen des Publikums unter der holzverkleideten Kuppel des Saales dargeboten: Trapezkunst und Nummern auf dem Seil. Wer in der Mitte des Raums saß, mußte für die Dauer dieser Nummern umziehen: auf die Bühne. Michels Truppe organisierte diesen Umzug in kaum zehn Minuten. Dann ging das Licht wieder aus.
    Jean Christophe, der Seiltänzer aus Paris, kalkulierte auf die Schwäche der Damen für weit offenstehende weiße Hemden und schwarzgekräuselte Brusthaare. Karens Fall war er nicht. Sie hielt es eher mit der Frau am Trapez, einer schönen Türkin. Objektiv gesehen waren wahrscheinlich beide gut. Das Publikum jedenfalls ging begeistert mit. Nur Karen – Karen war nicht bei der Sache. Sie wartete. Auf David.
    Sie nippte lustlos an ihrem Wein. In einem Anfall von Klarsichtigkeit sah sie sich einem Zauber unterliegen, der mit dem realen Menschen David Wlassow womöglich ebensowenig zu tun hatte wie die Kriminalitätsraten mit der Sonnenfleckenaktivität. »Du hast ein Bild im Kopf«, dachte sie. »Und das hat mehr mit dir als mit ihm zu tun.« Aber der Gedanke ging, wie er kam.
    Aus dem Zuschauerraum drangen Zigarettenrauch und leises Gemurmel zu ihr hoch. Die Bühnenarbeiter schleppten ein mit rotem Samt bezogenes Podest zur leeren Fläche unter der Kuppel, drapierten samten fließende Stoffbahnen darüber und stellten sechs vielarmige Kerzenleuchter auf

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