Caruso singt nicht mehr
fragte sich Bremer, der Erfolglose. Wenn er in Jochens traurige Augen sah: nein. Unabhängigkeit mochte ihren Preis haben. Umfassendes Versorgtsein ebenfalls.
»Mir geht’s gut.«
»Immer noch allein?« fragte Jochen, der außer seiner imposanten Schallplattensammlung nur noch seine alte Mutter liebte.
Was solche harmlosen Fragen alles auslösen können, dachte Paul und schüttelte den Kopf. Er schämte sich ein bißchen wegen gestern abend: Er hatte dem geduldigen Jochen sein Herz ausgeschüttet. Ihm alles erzählt. Von der gefährdeten Idylle in Klein-Roda. Von seinem Verhältnis zu Sibylle und den Frauen. Von Anne.
» Du hättest ihn umgebracht«, hatte der pragmatische Jochen schließlich gesagt, der Pauls Beichte ebenso weggesteckt hatte wie einen Handkäs’, eine Kalbshaxe und weit mehr als die Hälfte von einem Drei-Liter-Krug Apfelwein. » Sie , vielmehr. Du hättest sie umgebracht, wenn deine Liebste dich an die Staatsmacht verpfiffen hätte.«
Paul verzog den Mund. »Zum Betrügen, lieber Jochen, gehören zwei: der Betrüger und der Betrogene. Meinst du nicht, das wäre mir gerade noch rechtzeitig eingefallen, bevor ich es zum Äußersten hätte kommen lassen?«
»Und meinst du nicht, daß ihr das auch gerade noch rechtzeitig eingefallen sein könnte?«
Daß zu dieser Art von Betrug immer auch einer gehört, der nicht sehen will, daß er der Betrogene ist? Wahrscheinlich, dachte Paul. Sie war ja weiß Gott klug genug.
Jochen wischte sich den Mund und winkte nach dem Ober und einem Obstler. Der ersten Runde ließen sie eine zweite folgen. »Ich muß noch fahren«, sagte Paul – eine, wie ihm auffiel, völlig folgenlose Bemerkung – und setzte das leere Glas ab.
Jochen hatte den weichen Mund zu einem schmalen, strengen Strich geformt und guckte Paul vorwurfsvoll an.
»Sie schämt sich, du Idiot. Und du, dem sie das alles auch noch voller Vertrauen erzählt hat, kneifst den Schwanz ein und verziehst dich!«
»Nananana«, machte Paul, aber sein Widerstand kam ihm selbst eher symbolisch vor.
»Das Schlimmste am Verrat«, deklamierte Jochen düster, »ist nicht, was verraten wurde.«
Paul protestierte. In der DDR war es durchaus darauf angekommen, was die Organe des Staates in Erfahrung bringen konnten. Auf Pläne zur Republikflucht stand, soweit er wußte, mindestens Bautzen.
»Mag alles stimmen«, sagte Jochen und wischte weitere Argumente mit dem Schwung seines rechten Arms vom Tisch, haarscharf an Pauls geripptem Ebbelwoiglas vorbei. »Aber der Punkt ist: Der Verrat kränkt deshalb so sehr, weil der Verratene ihn zugelassen hat.«
»Du meinst: Weil er vertrauensselig war.«
»Nein: Weil er den Feind im Freund nicht hat erkennen können. Weil er geliebt hat, wer ihn nur benutzen wollte … Und weil er diese Tatsache nicht leugnen kann. Nie wird leugnen können. Der Verratene hat immer – kollaboriert …«
Paul blickte seinen alten Freund erstaunt an. Jochen war sichtlich angegriffen von seinem eigenen Argument.
»Jochen?« fragte er mit hochgezogener Augenbraue.
»Laß nur«, wehrte der müde ab. »Das ist eine Erinnerung, bei der ich mich nicht lange aufhalten möchte.«
Paul goß beiden einen frischen Schoppen in die gerippten Gläser. Der Bembel, wie Frankfurter die Krüge nannten, in denen sie ihr Nationalgetränk auszuschenken pflegten, ging langsam zur Neige.
Jochen sah alt und verschlissen aus. »Paul«, sagte er leise und guckte in sein Glas. »Tu ihr das nicht an.«
»Was denn schon?« Bremer sträubte sich noch, obwohl er genau wußte, was Jochen Schilling meinte.
Jochen hob resigniert die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Sie hat dir vertraut, Paul. Erspar ihr die Wiederholung der Erfahrung, daß das ein Fehler ist.«
Sie hatten sich sehr weinselig voneinander verabschiedet. Paul war noch völlig fahrtüchtig gewesen, hatte er gestern abend geglaubt. Heute früh aber mußte er, vor der Haustür stehend, verdächtig lange darüber nachdenken, wo er wohl gestern sein Auto geparkt hatte.
Lieber Jochen, dachte er mit Rührung. Jochen Schilling hatte auch kein Talent zum Glück.
Paul fuhr, für seine Verhältnisse, geradezu zahm. Er hatte nachzudenken. Ihm war nämlich völlig unklar, wie er Anne gegenübertreten sollte. So tun, als ob nichts gewesen wäre? Sich dafür entschuldigen, daß er eine so lange Leitung gehabt hatte? »Ich bin nicht wie dein Mann« murmeln? Paul schnaubte. Wahrscheinlich war ihr gar nicht aufgefallen, daß er sich seit Tagen nicht mehr
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