Caruso singt nicht mehr
die Stufen des Podests. Dann verlosch das Licht. Nur die Kerzen beleuchteten die Szene.
Wie aus dem Nichts war er plötzlich da: Eine weiße, schlanke Gestalt bewegte sich die Stufen des Podestes hinauf, in einer fließenden, sanften Welle. Warum, fragte sich Karen erstaunt, sah es nur so unendlich viel eleganter aus, wenn einer auf Händen ging? Vielleicht, weil sich nur so der Körper zu einem Bogen spannen ließ? Oder weil dieser Mann hier, um das Muster des Halbkreises zu brechen, den sein Körper vom vorgereckten Kopf bis zu den nach hinten gestreckten Beinen beschrieb, kokett das rechte Bein abgewinkelt hatte? David trug einen weißen, hochgeschlossenen, anliegenden, dabei fast keuschen Anzug – und keine Schuhe an den Füßen. Sie wußte, daß das Kalkül war, ihr war klar, daß diese Inszenierung hemmungslos auf die romantischen Gefühle des Publikums zielte – aber auch auf Karen verfehlte das seine Wirkung nicht: Zwischen den Zehen seines rechten Fußes steckte eine tiefrote, halb aufgeblühte Rose.
Als die ersten Takte der Musik erklangen, von der er sich begleiten ließ, hätte sie fast aufgelacht. Das war eine Musik, die man geschickter nicht hätte auswählen können, wenn man es auf die Herzen der Zuschauer abgesehen hatte: »Caruso« von Lucio Dalla, gesungen im Duett mit Luciano Pavarotti, ein Lied, das ohne Umweg jene Seelenecke ansteuerte, in der sich das Schöne und das Sentimentale in den Armen lagen.
Zwei lange, dünne, durchsichtige Stäbe lagen auf dem Podest, an einem Ende mit einer gut handflächengroßen Platte versehen. Erst balancierte David kopfunter auf beiden dieser Stäbe, den Kopf in den Nacken gelegt, mit entrücktem Lächeln. Dann stützte er sich mit der rechten Hand nur noch auf einen, während er vor den Augen des Publikums langsam um diese kaum sichtbare Achse rotierte.
Karen hielt, ohne es zu merken, den Atem an: David ließ vergessen, daß er Artist war und nicht Tänzer. Die lebenden Skulpturen, die sein Körper bildete, schwebten im Raum, scheinbar ohne Bodenberührung. Mit ausgestrecktem Arm und abgewinkelten Beinen segelte er wie ein Vogel durch den dunklen Saal; wie ein Tänzer im Sprung – im Zustand der Schwerelosigkeit. Er faltete sich auf wie eine sich entblätternde Rose. Und lag in der Luft wie die schwebende Jungfrau mit in die Gerade gestreckten Gliedmaßen – ein eigentlich unvorstellbarer Verstoß gegen die Gesetze der Schwerkraft. Auf seinem Gesicht sah Karen für einen Bruchteil von Sekunden den träumerischen, in weite Fernen gerichteten Blick, dem sie schon einmal an einem ungleich prosaischeren Ort begegnet war. David hatte sich in seinen Körper zurückgezogen, war eins geworden mit dem Kunstwerk, das er darstellte.
Das Publikum war völlig verstummt. Niemand klatschte. Auch nicht, als David die Beine zum Kreis nach hinten bog, sein rechter Fuß über seinem Kopf schwebte und seine Zehen im dramaturgisch richtigen Moment die rote Rose freigaben. Alle, glaubte Karen, hielten wie sie den Atem an, und man hätte sicher das Geräusch hören können, mit dem die im Kerzenlicht glühende Rose auf den roten Samt glitt, wenn nicht in diesem Moment Luciano Pavarotti zum sehnsüchtigen Aufschrei angehoben hätte. »Te voglio bene assaie, ma tanto tanto bene sai.« Ich liebe dich. Zu sehr.
Karen fühlte, wie ihr Herz stolperte. Davids Inszenierung war schamlos, melodramatisch, von einer ungeheuren Intensität und von einer Leichtigkeit, die dem Publikum erfolgreich verbarg, welche enorme Kraft und Körperbeherrschung dazu nötig waren. Denn alles ist schwieriger, wenn es langsam geschieht, dachte Karen. Im Fluge elegant sein kann jeder. David hatte das Gesetz der Langsamkeit begriffen: nicht nur als artistisches Prinzip. Sondern als erotisches.
»Du weißt genau, was du tust, du Schuft«, sagte Karen leise und merkte, wie die Hand zitterte, mit der sie ihr Glas an den Mund führte. Es waren seltsamerweise Davids Füße, die nackten, langgliedrigen, ungemein verletzlich wirkenden Füße, die sie beinahe mehr erregt hatten als sein gestreckter Hals, auf dem sie die große Schlagader pochen sah. Als der entrückte Blick in seinen Augen, als die fast ekstatische Hingabe an die eigene Perfektion.
Nach einem prüfenden Blick in die Zuschauerreihen erteilte sich Karen Absolution. Warum sollte es ihr eigentlich anders gehen als dem Publikum, das jetzt, nachdem David wie ein weißer Schatten wieder ins Dunkel des Zuschauerraumes verschwunden und das Licht
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