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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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gemeldet hatte. Wahrscheinlich hatte sie gar keine Zeit gehabt, auch nur einmal an ihn zu denken. Bestimmt hatte sie genug um die Ohren gehabt. Wahrscheinlich war er sowieso nicht ihr Fall.
    In Windeseile, schien ihm, hatte er die Autobahnabfahrt zur B 27 erreicht. In Wirklichkeit lag er ganze acht Minuten unter seiner Bestzeit.
    Als er von der Bundesstraße auf die langgezogene, gerade Straße einbog, die nach Klein-Roda führte, nahm er die Erscheinung erst gar nicht wahr, die sich ihm von fern näherte. Eine schwankende, schlingernde Gestalt kam ihm entgegen, ohne Ähnlichkeit mit Mensch, Tier oder Fahrzeug. Erst als sich der Abstand zwischen ihnen verringert hatte, erkannte er eine Frau auf einem Fahrrad, im weiten Rock und mit Kopftuch; wahrscheinlich eine Nachbarin, sicher eine Landfrau. Als Autofahrer brach ihm bei diesem Anblick der kalte Schweiß aus. Als Fahrradfahrer hegte er tiefe Bewunderung für das, was sich vor allem die alten Bäuerinnen so zumuteten. Sie gondelten bei Wind und Wetter auf kaum noch verkehrstüchtigen Drahteseln durch die Landschaft, meistens noch mit einer Harke oder Hacke in der Hand, mit schweren Eimern am Lenker oder anderen Lasten auf dem Gepäckträger. Ganz zu schweigen vom meistens beträchtlichen Eigengewicht, das sie ja auch noch zu bewegen hatten. Die kannten keine Gangschaltung und kamen doch noch jede Steigung hoch. Und meistens auch wieder runter – trotz kaum noch funktionierender Bremsen. Ein Rätsel, dachte Paul, dessen Rad mit allen Schikanen ausgestattet war, mit denen moderne Sportgeräte heute aufwarteten.
    Er fuhr langsamer. Die Radfahrerin, die ihm da entgegenkam, schwankte gefährlich. Sie mußte absolutes Gottvertrauen in sämtliche Autofahrer haben – wozu er nicht unbedingt raten konnte. Und war das nicht gerade erst ein Jahr her, daß die alte Hanna vom Rad gefallen war? Liebe alte Hanna, dachte Paul liebevoll. Er hatte sie gemocht, die alte Frau. Ihr Tod war eine Tragödie gewesen.
    Die alte Hanna war schwerbeladen von ihrem Feldstück kurz vor Groß-Roda zurückgekommen, auf dem sie ihr Gemüse anbaute. Hannas Acker war Pauls Lieblingsgarten gewesen: Am hinteren Ende des schmalen Gärtleins stand ein kleiner, verwachsener Birnbaum, daneben Johannisbeersträucher und eine einsame Konifere. Ihren Salat, ihre Kohlköpfe, die Erdbeeren und Radieschen, den Lauch und den Sellerie pflanzte Hanna mitten zwischen die Rhododendren und Dahlien, unter eine kleine Hängebirke, neben Tagetes, Pfingstrosen, Buchsbäumchen, vor und hinter eine blaßrosa Rose, neben gelbe Flecken von Calendula und hinter ein ramponiertes, aus alten Fenstern gefertigtes Frühbeet. Es schien der Ehrgeiz der alten Frau zu sein, von jeder in Bauerngärten üblichen Gattung wenigstens ein Exemplar im Garten zu haben. Das bunte Durcheinander schadete den Pflanzen nicht, im Gegenteil: Bei Hanna wuchs alles besonders üppig.
    Der kleine Acker stand direkt neben dem Grundstück von Baustoffhändler Kratz. Und der rückte, wie Bremer mit wachsendem Zorn sah, dem Stück Paradies von allen Seiten bedrohlich nah: Riesige Schotterhaufen neigten sich zu Hannas Garten hinüber, Paletten mit Klinkern und Dachziegeln standen direkt auf der Grundstücksgrenze, in einem ebenso gefährlichen Neigungswinkel. Paul hatte Kratz im Verdacht, daß er Hannas Garten am liebsten plattgemacht oder still und leise unter Sand- und Kieshalden begraben hätte. Hanna aber schien das alles nicht zu kümmern. Jeden Tag war die alte Frau auf ihrem Acker zugange, und Paul hatte sie oft dort stehen sehen: auf die Hacke gestützt in die Runde blickend.
    Der Unfall war in den Abendstunden passiert. Der kleine Peter aus Heckbach, der uneheliche Sohn von Gottfried – Bremer fand diese Vorstellung noch immer gewöhnungsbedürftig –, hatte sich von einem Kumpel dessen Mofa ausgeliehen. Was natürlich verboten war – aber wann hätte das in diesem Alter schon mal irgend jemanden gehindert? Ein Mofa war die Vorstufe zum Motorrad, auf das dann meistens die Verkörperung der Freiheit, das Auto, folgte. Ein Vorgeschmack auf die Erwachsenenwelt. Das wollten alle Jungen: endlich nicht mehr Fahrrad fahren müssen. Paul lachte in sich hinein. Spätestens mit vierzig entdeckten sie es meistens wieder.
    Der Junge wollte, wie er später unter Tränen versicherte, das Mofa nur mal eben ausprobieren, auf dem Feldweg zwischen Heckbach und Groß-Roda, dort, glaubte er, könne doch gar nichts passieren. Dort aber war es passiert. Auf dem

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