Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte
gleichgültig zu sein.
»Du sagtest, du wärst noch ein Mädchen / doch du warst das Mädchen einer Madame / die eine Nutte aus dir machte, ohne dich zu fragen / ob es aus Vergnügen oder Langeweile war.«
Weil er sich immer trauriger fühlte, bat Biscuter die kahlköpfige Alte, den Videorekorder auszuschalten. Sie tat ihm den Gefallen, nur um sich im selben Moment von seiner Melancholie anstecken zu lassen. Biscuter und die Alte weinten bereits gute fünf Minuten, als sie endlich beschlossen, sich gegenseitig zu erklären, warum sie eigentlich weinten.
»Ich weine, weil das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte, so ein trauriges Leben hatte.«
»Und ich, weil das alles hier schon lange eine Ruine ist. Nächste Woche kommen die Spitzhacken und setzen allem ein Ende, dann wird das La Dolce Vita nur noch Geschichte sein. So wie alle, die hier arbeiten. Aber was heiÃt das schon, Geschichte? Ungefähr so viel wie ScheiÃdreck. Geschichte sein heiÃt toter als tot zu sein.«
»Die Calle de las Tapias ist bereits verschwunden.«
»Und mit ihr verliert die Stadt ein weiteres Stück Identität«, meinte die Alte und fuhr fort: »In der letzten Zeit kommen hier viele Intellektuelle vorbei, und ich höre ihnen gerne zu. Sie wohnen fast alle in besseren Gegenden, zeigen sich aber sehr solidarisch mit unserem Viertel; sie sagen, es sei ein Teil ihres historischen oder sentimentalen Gedächtnisses. Ich muss immer an die armen Mädchen denken, die sich in diesen StraÃen mit ihrer Muschi den Lebensunterhalt verdient haben. Wo sind die alle gelandet, diese Muschis? Irgendwo, Señor. Denn solche Frauen finden keinen Platz in den vornehmen Bordellen der feinen Leute. Und die Freudenmädchen aus dem La Dolce Vita, was ist mit denen? Die können sich nicht mal arbeitslos melden oder in Rente gehen, denn welche Animierdame hat schon in die Krankenkasse eingezahlt? Und die, die sich noch immer durch das La Dolce Vita schleppen, müssen ihre Hernien mit Stahlbeton im Zaum halten.«
»Ist Helga Singer auf den Strich gegangen?«
»Sie war Animierdame.«
»Hat sie dir gegenüber mal ein Kind erwähnt?«
»Das war seltsam. Wenn sie nüchtern war, hat sie erzählt, dass sie ein Kind gehabt hätte, das aber tot zur Welt gekommen sei. Wenn sie betrunken war, hat sie losgekläfft wie eine trauernde Hündin und das Kind zurückverlangt, das man ihr angeblich genommen hatte.«
Sie schloss Biscuter in die Arme, er könne sie jederzeit besuchen, wenn ihm nach Weinen zumute wäre. Er brauche sich keine Sorgen zu machen, selbst wenn das La Dolce Vita abgerissen werden sollte, würde sie jeden Abend ihres Lebens an diesen Ort zurückkehren, hierhin, wo sie jetzt stehe, was immer hier eines Tages hinkomme, was immer hier eines Tages errichtet würde.
»Ich hatte nie einen Herrn, Pep, genau wie die Katzen, aber das hier war mein Haus, ich hatte ein Haus.«
Biscuter machte sich auf den Weg und stieà um ein Haar mit einem dicken Mann zusammen, der gerade einen prüfenden Blick auf die Fassade des Nachtlokals warf, als überlegte er, es zu kaufen.
»Entschuldigen Sie, Señor. Das ist doch das La Dolce Vita, oder?«
Noch ein Argentinier! Biscuter trat einen Schritt zurück, um den Dicken in seiner ganzen Fülle in Augenschein zu nehmen, dann deutete er auf das Schild.
»Das habe ich natürlich gelesen, ich frage nur, weil ich hier keinen einzigen Menschen sehe, weil in der Gegend überhaupt nichts los ist. Das chinesische Viertel sieht ja fast so aus wie Dresden â entweder wird es gerade bombardiert, oder man trägt es ab, um es woanders wieder aufzubauen ... Ich kann mich noch gut an die vierziger Jahre erinnern, als ich hier mit Manolo Caracol und Lola Flores einen draufgemacht habe! Ich war zum Studieren in Spanien und blutjung, aber nachts haben wir so richtig die Sau rausgelassen. Ich war ein berühmter Frauenheld, mit dem Gemüt eines Luden. Lude heiÃt so viel wie Zuhälter, Herr ...?«
»Plegamans, Josep Plegamans Betriu.«
Mit seiner winzigen Hand konnte Biscuter kaum die Fingerspitzen des Mannes umfassen, die so dick waren wie die Havannas, die Carvalho gelegentlich rauchte.
»Aquiles Canetti, Diplomat.«
10 Du sagtest, du wärst noch ein Mädchen
Im Mondschatten eines Ombús auf der Plaza Prim zählte Cayetano die Schätze, die er in seinem kleinen
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