Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte
Ihnen?«
Dorotea hatte sich umgedreht, um sich keine einzige Bewegung des Dicken entgehen zu lassen, der immer weiter zurückblieb, mit der Entfernung kleiner wurde, aber mit den Schritten eines Dickhäuters weiter in ihre Richtung marschierte, als wollte er ihr zu verstehen geben, dass er ihr ohne Weiteres folgen könnte.
»Arschloch!«, schrie sie mit erstickter Stimme, worauf der Taxifahrer sie erstaunt im Rückspiegel musterte und dann fragend Carvalho anblickte.
»Was haben Sie?«, fragte Carvalho, aber Dorotea hatte sich schon wieder umgedreht, überrascht von Carvalhos Frage und der Nervosität des Fahrers.
»Wer ist ein Arschloch?«
»Ich musste an einen Politiker denken. Man sollte sie alle erschieÃen, am besten mit Pistolen und Maschinengewehren.«
Der Taxifahrer verdrehte den Oberkörper und starrte das seltsame Paar an.
»Keine Sorge«, versuchte ihn Carvalho zu beruhigen. »Natürlich nur mit einem Spielzeuggewehr.«
»Ich würde auch keinen einzigen Politiker am Leben lassen«, pflichtete der Taxifahrer ihr bei. »Die Dame hat völlig Recht.«
Aber Dorotea wollte nicht mehr Recht haben.
»Mögen Sie etwa keine Politiker? Ist Ihnen das Militär lieber?«
»Das habe ich nicht gesagt, Señora. Obwohl, was soll ich sagen, das Militär hat sich mit niemandem angelegt, der sich nicht mit ihm angelegt hat, und Franco hat auch Gutes getan.«
»Anhalten! Halten Sie sofort an!«, schrie Dorotea.
Der Taxifahrer fuhr an die Seite. Dorotea zog ein paar Scheine aus der Tasche und warf sie auf den Beifahrersitz. Ohne auf Carvalho zu achten, sprang sie aus dem Taxi. Er folgte ihr, während der Taxifahrer noch immer irgendwelche Rechtfertigungen über Francos Rolle in der Geschichte stammelte.
»Ich habe nie gesagt ...«
Dorotea lief den Bürgersteig entlang, als wäre sie allein unterwegs. Carvalho versuchte, sie einzuholen, was nicht einfach war wegen der groÃen Schritte der still vor sich hin weinenden Frau. Er hielt sie fest, schloss sie in die Arme, und sie presste laut schluchzend den Kopf an seine Brust. Sie lieà sich zu einem Café führen, wo sie eine Tasse Tee bestellte, während Carvalho bereits mit einem Glas Whisky herumspielte und auf eine Erklärung wartete.
»Ich habe jemanden gesehen, der mich an die Vergangenheit erinnert hat. An die finstersten Jahre der Diktatur in meinem Land. Sie hätten nichts davon, wenn ich Ihnen sagen würde, wer es ist. In Spanien interessiert das niemanden. Nicht jeder hat die gleichen Erinnerungen wie ich. Im Gegenteil, es gibt immer weniger Leute, mit denen ich meine Erinnerungen teilen kann. Ich musste in diesem Land viele Jahre mit Menschen verbringen, die andere Erinnerungen haben als ich.«
»Sie hatten viel Zeit, das alles hinter sich zu lassen. So wie wir. Obwohl es mir manchmal so vorkommt, als hätten wir uns erst vor zwei Tagen gegenseitig abgeschlachtet und gefoltert. Dabei ist das zwanzig Jahre her.«
»Bei uns vierzehn, vierzehn Jahre, seit uns dieser Säufer den Falkland-Krieg beschert hat. Vierzehn. So wie die bösen Frauen in den Tangotexten verschwindet die Erinnerung immer mit einem anderen, mit einer neuen Generation. Aber ich habe keine schönen Erinnerungen. Ich hatte keinen Glanz im Gras.«
»Welches Gras?«
»Strengen Sie Ihre Phantasie an. Ich rede vom Mate. Mögen Sie Mate? Haben Sie ihn schon mal probiert?«
»Genug, um Whisky vorzuziehen.«
»Was wollten Sie mir über Emmanuelle sagen?«
»Dass das alles keinen Sinn ergibt. Sie bitten mich, sie zu suchen, und vierundzwanzig Stunden später taucht ihre Leiche auf. Sie haben mir nicht alles erzählt, und ich werde die Ermittlungen einstellen, wenn Sie mir nicht sagen, wer dahintersteckt, oder war das Ihr Entschluss?«
Sie kann sich noch nicht einmal dazu entschlieÃen, ihm zu antworten.
»War es Rocco?«
Doroteas Nachdenklichkeit ist eher ein Ausdruck von Traurigkeit als Besorgnis.
»Wir sollten Helgas Schwester einen Besuch abstatten.«
Dorotea nickt und drängt ihn zum Aufbruch.
Als Carvalho erst noch einen Anruf vom Telefon des Cafés aus machen wollte, reichte ihm Dorotea ihr Handy und zog sich diskret zurück. Von der Tür aus versuchte sie, mit zusammengekniffenen Augen seine Miene zu deuten, aber zwischendurch streckt sie immer wieder den Kopf nach drauÃen, um alle sechs Himmelsrichtungen zu
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