Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte
einer Frage des Temperaments zu tun hat: âºAnzeichen der Unsterblichkeit in den Erinnerungen an die frühe Kindheitâ¹. Wahrscheinlich haben die Cineasten unter Ihnen auch den Film
Fieber im Blut
gesehen, dessen Originaltitel
Splendor in the Grass
, also âºDer Glanz im Grasâ¹, einem Vers aus Wordsworthâ Ode entstammt. Nein? Haben Sie überhaupt etwas auÃer Spielberg gesehen? Kaufen Sie sich das Video. Ich möchte, dass Sie eine vergleichende Studie zwischen dem abstrakten Universalismus des groÃen englischen Poems und dem in Gabriela Mistrals Gedicht vornehmen, das ich Ihnen vorgelesen habe, dem von den Mädchen, die spielen, sie wären Königinnen. Auch wenn es sich um Mädchen handelt, gilt die Aufgabe selbstverständlich auch für die jungen Männer im Seminar. Denken Sie an unsere Untersuchung von
Diesseits vom Paradies
von Scott Fitzgerald hinsichtlich der Erwartung, im Leben zu triumphieren. Ich betone noch einmal, Sie sollen keine Textanalyse, sondern eine typologische Analyse vornehmen und Beispiele von Mythologisierung herausarbeiten. Vergleichen Sie die Darstellung der Jugend in den genannten Beispielen mit dem, was ich Ihnen anhand einer Interpretation von Ziolkowskis
Entzauberten Bildern
über die narzisstische Enttäuschung im
Faust
oder im
Dorian Gray
erläutert habe.«
Sie erklärte die Lehrveranstaltung für beendet, und mehrere Studenten eilten zu ihrem Pult.
»Ich habe Gabriela Mistrals Gedicht noch nie so gelesen, wie Sie es gelesen haben, und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich es nie ganz verstanden«, sagte ein blondes Mädchen mit groÃem Mund und hervortretenden Venen an den Schläfen.
»Ich fürchte, solange du nicht mein Alter erreicht hast, wirst du es auch nie ganz verstehen. Der Mythos der Jugend ist ein Betrug, in erster Linie ein Betrug an jungen Leuten, so wie das Versprechen, eine Königin zu sein oder im Leben zu triumphieren, wie bei der Figur in Fitzgeralds
Diesseits vom Paradies.«
Dorotea verlieà den Hörsaal und machte sich auf den Weg zu ihrem Büro, wobei sie von der jungen Frau begleitet wurde, die in einem fort auf sie einredete. Sie hörte ihr längst nicht mehr zu, während sie ein paar mechanische Worte mit der Kollegin wechselte, mit der sie das Büro teilte. Es gelang ihr, sich von einem Gespräch loszumachen, in dem sie über die Arschlöcher lästerten, die sämtliche männlichen Professoren für sie waren: konkurrenzorientiert, raumgreifend, immer nur an sich selbst interessiert. Die Studentin folgte ihr bis zu einem wartenden Taxi, in seinem Inneren ein Mann, der unentwegt auf seine Hände starrte. Auf dem Weg mussten die beiden Frauen an einem ungewöhnlich dicken Mann vorbei, so unglaublich fett, dass weder Dorotea noch das Mädchen es fassen und sehen wollten. Bevor Dorotea in den Wagen stieg, drückte sie der Studentin ein Buch in die Hand.
»Hier, das kannst du haben.
Entzauberte Bilder
von Theodore Ziolkowski; achte vor allem auf die Stelle, wo er von der Bedeutung des Spiegels für die Herausbildung oder Auflösung des Bildes spricht, das wir von uns haben. Ein Spiegel verhindert nie den Lauf der Zeit. Er beschränkt sich darauf, ihn festzuhalten.«
Sie hatte es geschafft, die groÃmäulige Studentin zu überraschen, ja sogar verstummen zu lassen. Jetzt lieà sie sich neben Carvalho nieder und tat dasselbe wie er: seine Hände betrachten.
»Kennen Sie Ihre Hände nicht? Sehen Sie sie zum ersten Mal im Leben?«
Als hätte man ihn in einer kompromittierenden Situation erwischt, zog Carvalho schnell seine Hände weg. Das Taxi setzte sich in Bewegung, und in dem Moment sah Dorotea den dicken Mann am Fuà der Treppe, die zur Fakultät hinaufführte. Ihr Hals versteifte sich, ihre Augen waren gebannt von dem aggressiven, wissenden Blick des Dicken. Carvalho redete und redete.
»Helga kommt etwa um 1980 nach Spanien. Vergebliche Reise, vergebliche Karriere. Sie wird kein Star. Um dieselbe Zeit verlässt sie ihren Agenten in Barcelona â oder wird von ihm verlassen â, Gualterio Sampedro, ein Freund und ehemaliger Mithäftling von Biscuter, meinem Partner. Aber Sie haben mir nicht die ganze Wahrheit gesagt, Dorotea. Emmanuelle hatte ein Verhältnis mit Rocco, Ihrem Exmann. Zwischen 1980 und 1983 hat Gualterio die beiden gemeinsam gesehen. Hören Sie mir überhaupt zu? Was ist mit
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