Cash
an.«
Eine halbe Stunde später schlich Tristan wie ein Ninja am Zimmer seines Ex-Stiefvaters vorbei in das Zimmer, das er sich mit den drei Hamstern teilte. Die vier Matratzen lagen so dicht an dicht, dass sie zusammen aussahen wie ein riesiges Bett von Wand zu Wand. Tristans Matratze war die dritte oder die zweite, je nachdem, ob man vom Fenster oder vom Schrank aus zählte. Der Junge, Nelson, zu seiner Linken, war sechs, das Mädchen, Sonia, zu seiner Rechten, fünf, die kleine Paloma war drei. Auf seinem Kopfkissen lag ein Zettel: glaub ja nicht, dass du dafür nicht bezahlst, in derselben peinlich extravaganten Druckschrift wie die Hausregeln, die mit Heftzwecken an die Wand gepinnt waren.
Tristan ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Nach einer ganzen Weile drehte er das Heißwasser auf, ließ es so leise wie möglich laufen, holte aus dem Medizinschränkchen seines Stiefvaters die Einwegklingen und rasierte sich zum ersten Mal, seit er alt genug war, sich das Kinnbärtchen stehen zu lassen. Als er fertig war, verlief der fette weiße Blitz noch immer in einer zackigen S-Kurve von seiner linken Wange zum Mundwinkel und aus dem anderen Mundwinkel hinunter zur rechten Kinnpartie. Der schmale Bart hatte jedenfalls so viel verdeckt, dass es nicht grundsätzlich das Erste war, was ihm ins Auge fiel, wenn er sein Spiegelbild in einem Schaufenster sah, doch dieser Anblick jetzt, ganz bloß nach so langer Zeit, war ein nackter Schock, der weitere ungebetene Erinnerungen hochspülte.
Im Schlafzimmer holte er seinen Spiralblock unter der Matratze hervor und versuchte, ein paar Zeilen zu schreiben.
Fass mich an ich mach dich ein
Doch mehr fiel ihm nicht ein, also schob er das Notizbuch wieder in sein Versteck. Als er ein paar Minuten später endlich auf dem Rücken lag, hörte er draußen den ersten Vogel, den ersten Vogel der Welt, Sonnenaufgang in einer halben Stunde, zur Schule fertigmachen eine halbe Stunde danach.
Er schloss die Augen, fühlte wieder das Buckeln der 22er, sah die Augen des Typen hochgehen, hoch, hoch, dann lauschte er wieder dem Vogel, seinem verrückten Geträller. Als er den Kopf zum Fenster drehte, sah er die zitternde überlebensgroße Silhouette auf der leicht flatternden hellbraunen Markise: Monstervogel.
Er starrte eine Weile an die Decke, schloss wieder die Augen.
Es ging ihm gut.
4 Einschlafen lassen
Am nächsten Morgen stand Matty mit dem Rücken zum Schlachtfeld, das seine Söhne hinterlassen hatten, Tasse Kaffee in der Hand, über die Brüstung seiner Rasenmatten-Terrasse im sechzehnten Stock gelehnt, und sah auf die benachbarten Straßen im Westen hinunter, ein winziges Schachbrett der Zerstörung und Sanierung, auf dem allem Anschein nach keine Lücke, kein Mietshaus unberührt geblieben war. Dann blickte er südwärts aufs Finanzviertel, die nicht vorhandenen Zwillingstürme. Er hatte sich immer vorgestellt, diese aalglatten Glaslavabüros, die bis zum Vorjahr die Aussicht dominiert hatten, schämten sich wie jemand, der durch einen blitzschnell aufgezogenen Duschvorhang entblößt worden war.
Er selbst schämte sich ein wenig, weil er seinen Söhnen wieder einmal aus dem Weg gegangen war und stattdessen im Ruheraum geschlafen hatte. Jedenfalls war es nur eine Nacht gewesen; Jimmy Iacone, der sich nach seiner Trennung nicht mehr sortiert kriegte und sein verfügbares Einkommen lieber in den Bars in der Ludlow Street ließ, wohnte praktisch seit sechs Monaten in diesem fensterlosen Verschlag.
Mattys stampfbeinige Nachbarin trat auf die Nebenterrasse und fing an, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, auf einen Teppichläufer einzudreschen wie auf ein störrisches Kind. Sie gehörte zu der einzigen orthodoxen Familie im Haus, die bereit war, den automatischen Schabbes-Aufzug zu benutzen, statt von Freitag Sonnenuntergang bis Samstagabend die Treppen zu benutzen, und somit auch der einzigen orthodoxen Familie, die imstande oder bereit war, über dem sechsten Stock zu wohnen. Doch sie hatten nur zwei Schlafzimmer, und die Frau war schon wieder schwanger, zum dritten Mal binnen fünf Jahren, also würden sie wohl bald umziehen und für mindestens eine halbe Million verkaufen, höchstwahrscheinlich an irgendein Wall-Street-Pärchen, das gern zu Fuß zur Arbeit ging. Jeden Dezember konnte man den Zuzug nichtjüdischer Paare in diese einst jüdische Enklave schlicht an den neuen Weihnachtslichterketten entlang der zwanzigstöckigen Hausfassade ablesen
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