Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
ich sagen soll. Wir stehen einander gegenüber und sehen uns an, bedrückt, suchend. »Es tut mir leid«, sage ich schließlich, aber er winkt ab. Irgendwie scheine ich ihn nicht richtig verstanden zu haben, was immer er mir sagen wollte. Ich habe ihm nicht so zugehört, wie er es sich gewünscht hätte.
Das Licht in der Krankenstation ist milchig grau. Kys Gesicht sieht sehr abwesend aus. Weit weg. Die Infusion tropft gleichmäßig in seine Vene. Er und Xander sind beide gefangen. Ich muss einen Weg finden, sie zu befreien.
Doch ich weiß nicht, wie.
Noch einmal gehe ich die Listen durch, zum zigsten Mal. Alle anderen arbeiten daran, Okers Camassia-Arznei wieder herzustellen, aber ich glaube, dass Oker recht hatte und wir uns geirrt haben. Ob Sortierer oder Pharmazeuten, allen ist etwas entgangen.
Ich bin so müde.
Einst habe ich mir gewünscht, mich einmal an den Rand eines Abgrunds zu stellen, um eine Springflut durch einen Canyon rauschen zu sehen. Der Boden würde beben, aber mir drohte keine Gefahr. Ich möchte sehen, wie die Bäume entwurzelt werden und das Wasser steigt, aber nur von einer Stelle aus, an der mich die Flut nicht mitreißen kann , dachte ich mir.
Doch jetzt hat der Gedanke etwas Befreiendes, auf dem Grund des Canyons zu stehen, die Wasserwand auf mich zurasen zu sehen und zu wissen: Das war’s, jetzt ist es vorbei , und bevor ich den Gedanken zu Ende gebracht hätte, würde ich weggespült ins Vergessen.
Als der Abend anbricht, kommt Anna in die Krankenstation und setzt sich neben mich. »Es tut mir so leid«, sagt sie mit einem Blick auf Ky. »Ich hätte nie gedacht, dass Hunter …«
»Schon gut«, sage ich. »Ich konnte es mir ja auch nicht vorstellen.«
»Morgen Abend findet die Abstimmung statt«, verkündet sie. Zum ersten Mal hört sich Anna an wie eine alte Frau.
»Was wird geschehen?«, frage ich.
»Xander wird wahrscheinlich in die Wälder verbannt«, antwortet sie. »Er könnte zwar auch für nicht schuldig befunden werden, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Die Leute sind zornig. Sie glauben nicht, dass Oker ihm befohlen hat, die Arzneimittel zu vernichten.«
»Xander stammt aus den Provinzen«, wende ich ein. »Wie soll er in der Wildnis überleben?« Xander ist intelligent, aber er war noch nie draußen in der ungezähmten Natur. Ich hatte in den Canyons wenigstens Indie bei mir, er wird ganz auf sich gestellt sein.
»Ich glaube, er soll auch gar nicht überleben«, sagt Anna.
Was soll ich machen, wenn Xander verbannt wird? Am liebsten würde ich mit ihm gehen, aber ich kann Ky nicht allein lassen. Selbst wenn ich die richtige Pflanze finde, wüsste ich nicht, wie man ein Heilmittel daraus herstellt und wie ich es Ky verabreichen sollte. Wenn es klappen soll, dann nur zu dritt, mit Ky, Xander und mir.
»Und Hunter?«, frage ich Anna sehr leise.
»Wir können nur für ihn hoffen, dass er ebenfalls verbannt wird.« Obwohl ich weiß, dass sie noch andere Kinder hat, die sie aus den Canyons hierherbegleitet haben, klingt sie so traurig, als sei Hunter ihr eigener Sohn, ihr letzter Nachkomme.
Anschließend gibt sie mir ein Blatt Papier, echtes Papier, das sie den ganzen Weg von der Höhle in den Canyons bis hierher gebracht haben muss. Es riecht nach den Canyons, hier draußen in den Bergen, und ich werde etwas wehmütig. Wie konnte Anna es nur ertragen, ihre Heimat zu verlassen?
»Hier sind die Zeichnungen der Blumen, um die du mich gebeten hast«, erklärt sie. »Entschuldige, dass es so lange gedauert hat. Ich musste erst die Farben herstellen. Sie sind noch ganz frisch, also pass auf, dass du sie nicht verwischst.«
Ich bewundere sie dafür, dass sie das getan hat, obwohl sie heute Abend ganz andere Sorgen hatte, und ich bin gerührt, weil sie mich für fähig hält, durch meine Analysen ein Heilmittel zu finden.
»Danke«, sage ich.
Unter die Bilder hat sie die Namen der Blumen geschrieben.
Castilleja, Meerträubel, Mormonentulpe.
Und viele andere, Grün-und Blühpflanzen.
Gegen meinen Willen muss ich weinen. Ich habe mein Schlaflied für viele Menschen geschrieben, und jetzt werden so viele von ihnen sterben. Hunter. Ky. Meine Mutter. Xander. Bram. Mein Vater.
Meerträubel , hat Anna geschrieben. Darunter hat sie einen dornig aussehenden Busch mit kleinen, tütenförmigen Blüten gezeichnet. Sie hat ihn gelb und grün gemalt.
Castilleja. Rot. Diese Pflanze habe ich in den Canyons gesehen.
Mormonentulpe. Ich betrachte eine wunderschöne weiße
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