Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
sein!«
»Sie sollen ihn ja nicht freilassen«, fährt Cassia fort. »Wir können ihm die Ausrüstung bringen, damit er das Heilmittel hier herstellt.«
»Und was wollt ihr dann damit machen?«, fragt ein anderer Wachtposten.
»Wir werden sie einem Patienten verabreichen«, erklärt Cassia. »Unserem Patienten. Ky.«
»Wir können nicht gegen Colins Befehle verstoßen«, sagt einer der Männer. »Er ist unser Oberhaupt. Das könnte uns die Reise nach Anderland kosten.«
»Aber das Heilmittel ist eure Chance, nach Anderland zu gelangen!«, beschwört sie Cassia mit leiser, überzeugender Stimme. »Das hier ist die Pflanze, nach der Oker auf der Suche war.« Sie holt etwas aus ihrer Tasche. »Die Mormonentulpe.« Am Schatten erkenne ich, dass sie ihnen eine Blume zeigt. »Die Zwiebel dient euch allen doch als Nahrung, oder? Im Sommer, wenn die Blume blüht, esst ihr sie frisch, und für den Winter lagert ihr sie ein.«
»Blühen die Mormonentulpen denn schon?«, fragt eine der Wachen. »Wie viele hast du rausgezogen?«
»Nur ein paar«, antwortet Cassia.
Ein weiterer Schatten ist zu sehen, und ich höre Annas Stimme. »Es gab sie auch in den Canyons«, sagt sie, »und auch wir haben die Zwiebeln gegessen. Ich weiß, wie man sie ausgraben muss, so dass sie nächstes Jahr wiederkommen.«
»Was macht das schon, wenn sie alle Pflanzen verwenden?«, fragt eine der Wachen. »Wenn wir erst mal in Anderland sind, brauchen wir keine mehr.«
»Falsch«, erwidert Anna. »Auch wenn ihr alle weg seid, muss die Pflanze weiter hier wachsen. Wir dürfen sie nicht einfach ausrotten.«
»Die Zwiebeln sind so klein«, wendet ein anderer Wachmann misstrauisch ein. »Wie kann so etwas denn zu einem Heilmittel werden?«
»Auch das wollte Oker noch herausfinden«, sagt Cassia. Sie gelangt in mein Blickfeld, und ich sehe, dass sie sowohl die echte Blume als auch das Papierkunstwerk in der Hand hält, das ihre Mutter ihr geschickt hat. Es hat die gleiche Form wie die Blüte, das sieht man auf den ersten Blick. »Oker hat während der Abstimmung beobachtet, wie ich diese Papierblume aus der Tasche gezogen und auseinandergefaltet habe. Das muss ihn auf die Idee gebracht haben. Ich glaube ganz fest, dass er diese Blume suchen wollte.« Sie scheint sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Und sie könnte recht haben: Oker hat seine Meinung geändert, nachdem er die Papierblume in ihren Händen gesehen hatte.
»Bitte!«, beschwört Cassia die Wachen. »Lasst es uns wenigstens versuchen!« Ihre Stimme klingt sanft und einschmeichelnd. »Ihr spürt es, oder?«, fragt sie, jetzt ganz wehmütig. »Anderland rückt in immer weitere Ferne.«
Stille tritt ein, als wir alle erkennen, dass Cassia recht hat. Auch für mich rückt Anderland immer weiter weg, so wie die Realität sich für Lei und Ky entfernt haben muss, als sie versanken. Mir entgleitet alles. Ich bin Cassia, dem Steuermann und Oker gefolgt, doch nichts lief so, wie ich es gewollt habe. Ich dachte, ich würde eine Revolution miterleben, ein Heilmittel entwickeln und eine Frau finden.
Angenommen, alle verließen mich? Alle flögen nach Anderland oder versinken, und ich bliebe allein zurück? Würde ich weiterleben wollen? Ja, das würde ich. Das ist mein Leben, das einzige, das ich habe.
»In Ordnung«, sagt einer der Wachen. »Aber beeilt euch!«
Anna hat an alles gedacht und die gesamte Ausrüstung aus dem Labor mitgebracht: einige Spritzen, Mörser und Stößel, destilliertes Wasser und einige von Okers Basismischungen mit der jeweiligen Liste der Inhaltsstoffe. »Woher wusstest du, was wir brauchen?«, frage ich sie.
»Ich wusste es nicht, aber Tess und Noah«, erwidert sie. »Sie halten es ebenfalls für möglich, dass Oker seine Meinung geändert hat. Sie wissen allerdings nicht, ob sie dir glauben können oder nicht, darin schwanken sie noch.«
»Und sie haben dir das alles einfach gegeben?«, frage ich.
Sie nickt. »Aber falls jemand fragt, müssen wir behaupten, wir hätten es gestohlen. Wir wollen sie ja nicht in Schwierigkeiten bringen.«
Cassia hält mir die Taschenlampe, während ich mir die Hände mit Desinfektionsmittel sterilisiere. Mit der Kante des Stößels zerteile ich die Zwiebel. »Sieht die schön aus!«, sagt Cassia und bewundert das Innere, das genauso weiß schillert wie das der Camassia-Zwiebeln. Ich zerdrücke sie im Mörser zu einer Paste. Anna reicht mir ein Reagenzglas. Cassia beobachtet mich, aber ich zögere auf einmal. Vielleicht liegt es an
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