Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
obwohl Großvaters Gedicht zu etwas anderem riet, hoffe ich, dass er auf sanfte Weise in die Nacht gegangen ist.
»Warum?«, frage ich leise. »Warum hat Großvater so etwas über Papa gesagt?«
»Ja, merkwürdig, nicht wahr?«, sagt meine Mutter, und als ich sie ansehe, hat sie mir das Gesicht zugedreht, und Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie weiß, dass er tot ist, obwohl sie nicht nach ihm gefragt hat und wir es ihr nicht erzählt haben.
»Ja«, sage ich.
»Diese Erinnerung stammt aus einer Zeit, bevor ich euren Vater kennengelernt habe«, berichtet meine Mutter. »Aber er hat mir erzählt, wie es dazu gekommen ist.« Sie hält inne und legt eine Hand auf ihre Brust. Ich glaube, ohne ihn fällt ihr das Atmen schwer, etwas in ihr ertrinkt noch in dem Verlust. »Dein Vater hat mir erzählt, dass Großvater dir seine Gedichte hinterlassen hat, Cassia«, sagt sie. »Er hat auch versucht, sie deinem Vater zu schenken.«
Jetzt bleibt mir die Luft weg. »Wirklich?«, flüstere ich. »Hat Papa sie gelesen?«
»Nur einmal«, antwortet meine Mutter. »Dann hat er sie ihm wieder zurückgegeben. Er wollte sie nicht haben.«
»Aber warum denn nicht?«
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Mir hat er immer erzählt, er habe es deshalb getan, weil er in der Gesellschaft glücklich war. Er wollte ein Leben in Sicherheit. Er wollte annehmen, was die Gesellschaft ihm bieten konnte. Diese Wahl hat er getroffen.«
»Was hat Großvater getan?«, frage ich. Ich stelle mir vor, wie es sein muss, jemandem ein solches Geschenk zu machen und es zurückzuerhalten. Eltern überreichen oft Geschenke, die nicht angenommen werden. Großvater versuchte, meinem Vater die Gedichte zu geben und ihm von der Rebellion zu erzählen. Meine Eltern versuchten, mir ein Leben in Sicherheit zu schenken.
»Damals gerieten sie in einen Streit«, fährt meine Mutter fort. »Deine Urgroßmutter hatte die Gedichte gerettet, und ihnen haftete das Erbe der Rebellion an. Abran hielt es für zu gefährlich, sie aufzubewahren, und warf deinem Großvater vor, zu hohe Risiken einzugehen. Schließlich akzeptierte Großvater die Entscheidung seines Sohnes.« Sie nimmt die Hand von der Brust und atmet tiefer durch.
»Wusstest du, dass Großvater sie mir geben würde?«, frage ich.
»Wir haben es uns gedacht.«
»Warum habt ihr ihn nicht daran gehindert?«
»Weil wir dir nicht die Entscheidung abnehmen wollten«, antwortet meine Mutter.
»Großvater hat mir aber nie von der Erhebung erzählt«, sage ich.
»Ich glaube, er wollte, dass du deinen eigenen Weg findest«, sagt meine Mutter lächelnd. »In dieser Hinsicht war er ein wahrer Rebell. Ich glaube, deswegen hat er den Streit mit deinem Vater als Erinnerung ausgewählt. Obwohl er sich über die Auseinandersetzung aufregte, sah er später ein, dass dein Vater Stärke gezeigt hatte, indem er seinen eigenen Weg einschlug, und dafür bewunderte er ihn.«
Ich verstehe jetzt, warum mein Vater den letzten Wunsch meines Großvaters – seine Gewebeprobe zu zerstören – erfüllen musste, obwohl er mit dieser Entscheidung nicht einverstanden war. Jetzt war er an der Reihe, eine gefällte Entscheidung zu respektieren und zu ehren. Dieses Geschenk übertrug mein Vater auch auf mich: Cassia, ich bin stolz auf dich, weil du das getan hast, wozu ich zu ängstlich war.
»Deswegen hat uns die Erhebung nicht gegen die rote Tablette immun gemacht«, sagt Bram zu mir. »Weil sie unseren Vater für schwach hielt. Sie dachten, er sei ein Verräter.«
»Bram!«, tadele ich ihn.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich das geglaubt habe«, erwidert Bram. »Die Erhebung hat sich geirrt.«
Ich sehe meine Mutter an. Ihre Augen sind geschlossen. »Bitte«, sagt sie, »spielt den Rest ab.«
Ich betätige die Taste des Miniterminals, und die Historikerin redet weiter.
»Seine Lieblingserinnerung an seinen Enkel Bram war dessen erstes Wort«, berichtet die Historikerin. »Es lautete: mehr! «
Bram lächelt ein wenig.
»Seine Lieblingserinnerung an seine Enkelin Cassia«, fährt die Historikerin fort, und ich lehne mich nach vorn, »war die an den roten Gartentag.«
Das war alles. Der Bildschirm wird schwarz.
Meine Mutter öffnet die Augen. »Dein Vater ist tot«, sagt sie mit zitternden Lippen.
»Ich weiß«, sage ich.
»Er ist gestorben, als du versunken warst«, erzählt Bram meiner Mutter. Sein Lächeln ist verschwunden, und seine Stimme klingt schleppend und traurig, müde vom Überbringen dieser furchtbaren
Weitere Kostenlose Bücher