Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
und erinnert mich daran, wie sie mir Pflanzen beschrieben hat, damit ich zur Ruhe kam. Königin Annes Spitze , sagte sie dann zum Beispiel langsam und sanft. Die wilde Möhre. Die Wurzel kann man essen, wenn sie noch jung ist. Die Blüte ist weiß und zart wie Spitze. Wunderhübsch. Wie lauter kleine Sterne.
Einmal hat die Gesellschaft sie in andere Provinzen geschickt, damit sie Felder mit unerlaubten Anbauprodukten untersucht, die möglicherweise als Nahrung dienen konnten. Man befürchtete, dies sei Teil einer Rebellion. Meine Mutter erzählte mir, in Grandia habe sie ein ganzes Feld mit Königin Annes Spitze entdeckt und in der anderen Provinz eines mit noch viel hübscheren weißen Blumen. Meine Mutter redete mit den Bauern, die die Felder angepflanzt hatten, und las die Furcht vor der Entdeckung in ihren Augen. Dennoch meldete sie sie der Gesellschaft, wie es ihre Pflicht war, um ihre Familie nicht zu gefährden. Die Gesellschaft ließ ihr die Erinnerung daran – diese Tat sollte sie nicht vergessen.
Meine Mutter hat ihr Leben lang Pflanzen gezüchtet. Könnte der Tag im roten Garten auf Großvaters Mikrochip etwas mit ihr zu tun haben?
Der Frühlingswind pfeift mir um die Ohren und weht die letzten braunen Blätter von den Zweigen der Büsche. Er zerrt an meinen Kleidern, und ich stelle mir vor, wie er sie mir vom Leib reißt, so dass die letzten meiner Gedichte hinaus in die Welt flattern würden. Ich spüre, dass es an der Zeit ist, mich nicht mehr so sehr an gewisse Dinge zu klammern.
Die Frau hat sich umgedreht und blickt jetzt hinüber zum See, dieser langgestreckten, unter vereinzelten Sonnenstrahlen glitzernden Wasseroberfläche.
Wasser, Fluss, Stein, Sonne.
Vielleicht hat Kys Mutter ihm ein Lied davon vorgesungen, während sie draußen in den Äußeren Provinzen die Steine mit Wasser bemalte.
Ich drücke der Frau den Ring wieder in die Hand und sage: »Geben Sie ihm nicht die Tabletten. Noch nicht. Versuchen Sie erst einmal, ihn zu beruhigen, indem Sie ihm etwas vorsingen.«
»Was denn?«, fragt sie mich ehrlich überrascht, dann weiten sich ihre Augen. »Ja, das könnte ich! Ich habe Musik in mir, seit ich denken kann!« Sie klingt fast euphorisch. »Aber ich weiß nur Melodien, keine Texte.«
Was hätte Hunter in der Siedlung der Farmer seiner verstorbenen Tochter Sarah vorgesungen? Sie hat an etwas geglaubt, an das er nicht glaubte. Was hätte er singen können, um die Kluft zwischen Glauben und Nichtglauben zu überwinden? Was würde Ky singen? Ich denke an alle Orte, an denen wir zusammen gewesen sind und an alles, was wir gesehen haben:
Wind unter Bäumen, über Hügelkamm,
Über die Grenze, die niemand sehen kann.
Als ich mit der Mutter des schlaflosen Kindes vor dem Museum stehe, frage ich mich wieder einmal, wie es Sisyphus ergangen ist, als er den Gipfel des Berges erreichte – sah er dort jemanden? Gab es eine verstohlene Berührung, bevor er sich am Fuß des Berges wiederfand, um den Stein erneut hinaufzuwälzen? Lächelte er im Stillen, als er seine Mühsal wieder auf sich nahm?
Ich habe noch nie ein Lied geschrieben, aber ich habe einmal ein Gedicht begonnen, das ich nie zu Ende gebracht habe. Es war für Ky und begann mit den Worten:
Ich steige ins Dunkel für dich
Wartest du in den Sternen auf mich?
»Augenblick«, sage ich, ziehe ein angekohltes Holzstäbchen aus dem Ärmel und löse ein Stück Papier von meinem Handgelenk.
Ich schreibe sorgfältig. Noch nie sind mir Worte so leicht zugeflogen, aber ich darf auch keinen Fehler machen, sonst müsste ich mir erst bei den Archivisten neues Papier besorgen. Ich habe das Gedicht jetzt vollständig im Kopf und schreibe schnell, weil ich befürchte, ich könnte den Faden verlieren.
Ich habe immer angenommen, mein erstes Gedicht würde für Ky sein. Irgendwie stimmt das jedoch sogar. Es ist etwas zwischen uns beiden, aber dennoch können wir es mit anderen teilen. Es geht um all die Orte, die einen bewegen, und darum, jemanden zu finden, den man liebt.
Neorosen, alte Rosen, Spitzen, weiß und rein.
Wasser, Flüsse, weite Seen und Sonnenschein.
Winde wehen unter Bäumen, über jeden Hügelkamm.
Weithin jenseits aller Grenzen, die man sehen kann.
Ich steige ins Dunkel für dich.
Wartest du in den Sternen auf mich?
Der ursprüngliche Anfang des Gedichtes für Ky steht jetzt am Ende. Ich habe ein Werk begonnen und zu Ende geführt. Nach kurzem Zögern setze ich meinen Namen ans Ende der Seite, als Autorin.
»Hier,
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