Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
interessantes Gesicht. Ich würde sie wiedererkennen, wenn ich ihr noch einmal begegnete, und irgendetwas an ihr erinnert mich an meine Mutter. Hoffnungsvoll und zugleich ängstlich sieht sie mich an, typisch für jemanden, der zum ersten Mal hierherkommt. Das Wissen über die Existenz der Archivisten hat sich mittlerweile verbreitet.
»Ich bin keine Archivistin«, sage ich zu der Frau, »bin aber befugt, in ihrem Auftrag mit Ihnen zu handeln.« Diejenigen von uns, die mit den Archivisten Geschäfte machen dürfen, sind verpflichtet, ein schmales rotes Armband am Handgelenk zu tragen, mit dem wir uns gegenüber den Kunden legitimieren können. Die illegalen Händler ohne das Armband verschwinden meist schnell wieder; jedenfalls lassen sie sich nicht am Treffpunkt vor dem Museum blicken. Die Leute, die hierherkommen, verlangen Sicherheit und Ehrlichkeit. Ich lächle die Frau an, um sie zu beruhigen, und gehe einen Schritt auf sie zu, damit sie das Armband besser sehen kann.
»Halt!«, sagt sie, und ich bleibe wie angewurzelt stehen.
»Entschuldigung«, sagt sie, »aber Sie wären beinahe auf das da getreten.« Sie zeigt auf eine Stelle am Boden.
Im Schlamm steht ein Buchstabe, den ich nicht geschrieben habe. Mein Herz macht einen Sprung. »Haben Sie das geschrieben?«, frage ich.
»Nein«, antwortet sie. »Sehen Sie das auch?«
»Ja«, sage ich. »Sieht aus wie ein E.«
In den Canyons habe ich mir dauernd eingebildet, meinen Namen zu lesen oder zumindest den Anfangsbuchstaben zu erkennen, obwohl ich ihn erst an dem Baum wirklich entdeckte, in den Ky ihn geritzt hatte. Aber hier steht unverkennbar ein Buchstabe im Schlamm, eingegraben mit kräftigen, energischen Strichen, als hätte die Person, die ihn hinterlassen hat, damit eine gewisse Absicht, ein Ziel auszudrücken.
Eli , denke ich unwillkürlich, obwohl er meines Wissens nach nie schreiben gelernt hat. Eli ist auch gar nicht hier, obwohl Central seine Heimatstadt ist. Er ist weit fort in den Äußeren Provinzen, wahrscheinlich inzwischen in den Bergen.
Meine Bemühungen sind also nicht umsonst , denke ich bei mir. Bestimmt ergreifen bald noch andere die Initiative.
»Da kann jemand schreiben!«, sagt die Frau bewundernd.
»Das ist doch ganz leicht«, erwidere ich. »Man hat doch die Buchstaben vor Augen.«
Verständnislos schüttelt sie den Kopf.
»Ich habe das nicht geschrieben, aber ich kann schreiben«, fahre ich fort. »Sehen Sie sich die Buchstaben einfach genau an und zeichnen Sie sie von Hand nach. Alles, was man braucht, ist ein bisschen Übung.«
Die Frau wirkt bedrückt und hat dunkle Schatten unter den Augen. Ihre Hände zittern nicht, aber aus ihrer Haltung spricht mühsame Beherrschung, Anspannung und Trauer.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, frage ich sie.
Sie lächelt und gibt mir die Antwort, die uns die Gesellschaft vorgeschrieben hat. »Doch, natürlich geht es mir gut.«
Ich richte den Blick auf die Kuppel der Stadthalle und warte. Wenn sie mir etwas sagen will, kann sie es jetzt tun. Ich habe Ky und die Archivisten sorgfältig beobachtet und von ihnen gelernt, dass ruhiges Abwarten oft die Verschlossenen zum Reden bringt.
»Ich bin wegen meines Sohnes gekommen«, sagt die Frau leise. »Seitdem die Seuche ausgebrochen ist, kann er nicht mehr einschlafen. Ich sage ihm immer wieder, dass wir ja jetzt das Heilmittel haben, aber er hat so große Angst davor, krank zu werden, dass er die ganze Nacht wach bleibt. Er ist inzwischen geimpft, fürchtet sich aber immer noch.«
»Wie schrecklich.«
»Wir sind so müde«, fährt die Frau fort. »Ich brauche grüne Tabletten, so viele, wie man hierfür bekommen kann.« Sie hält mir einen Ring mit einem roten Stein hin. Wo sie ihn wohl herhat? Ich bin nicht befugt, danach zu fragen. Wenn er echt ist, ist er sehr wertvoll. »Er hat so große Angst! Wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen.«
Sie hält mir den Ring hin, und ich nehme ihn. So etwas erleben wir immer öfter, seitdem die Erhebung die Tabletten und ihre Behälter eingesammelt hat, die wir von der Gesellschaft erhalten haben. Zwar bin ich froh, dass die blauen und roten Tabletten aus dem Verkehr gezogen wurden, aber ich weiß, dass manche Leute die grüne Tablette brauchen und darunter leiden, dass sie sie nicht mehr bekommen. Sogar meine Mutter hat einmal eine genommen.
Ich denke an sie und daran, wie sie sich über mein Bett gebeugt hat, wenn ich nicht einschlafen konnte. Der Gedanke versetzt mir einen schmerzlichen Stich
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