Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
eines Stöckchens in den Müllverbrenner halten. Als ich fertig bin, habe ich schwarze, kalte Hände, aber ein feuerrotes, warmes Herz.
Der Baum streckt mir seine Äste entgegen wie Arme, und ich drapiere den langen Papierstreifen darüber. Sanft bewegen sich die Zweige im Wind, und es scheint, als wiegten sie die Worte behutsam wie eine Mutter ihr kleines Kind. So behutsam, wie Hunter seine Tochter in den Armen hielt, als er sie zu ihrem Grab in den Canyons trug.
Im weißen Licht der Straßenlaternen erscheint mir der Park wie ein kühnes Phantasiegebilde oder ein Bild aus tiefen Träumen. Wenn ich aufwache, ist alles weg: die Papierbäume, die weiße Nacht. Meine dunklen Worte, die auf Leser warten.
Ich weiß, dass Ky verstehen wird, warum ich das tun musste, warum nichts anderes genügt hätte.
Geh nicht gelassen in die gute Nacht,
Brenn, Alter, rase, wenn die Dämmerung lauert.
Selbst wenn ein Sympathisant der Gesellschaft sie abreißt, muss er dabei unwillkürlich die Worte lesen. Selbst wenn er das Papier verbrennt, werden sie auf dem Weg zum Feuer durch seine Finger geglitten sein. Ich werde die Worte mit anderen teilen, egal wie.
Wer seines schwachen Tuns rühmt künftige Pracht
Im Sinken, hätt nur grünes Blühn gedauert,
Im Sterbelicht ist doppelt zornentfacht.
Auf wie viele Männer und Frauen überall auf der Welt das zutrifft! Am Ende hadern wir damit, wie schön und aufregend das Leben hätte sein können, wenn wir nur mutiger gewesen wären.
Früher wäre es auch mir so ergangen.
Ich wickle mehr Papier ab und lese die Zeile:
Wer jagt und preist der fliehenden Sonne Macht
Und lernt zu spät, dass er nur sie betrauert,
Geht nicht gelassen in die gute Nacht.
Ich webe das Papier in einem weiten Kreis durch die Zweige. Auf und ab. Ich gehe in die Knie und recke dann die Arme weit über den Kopf, wie die tanzenden Mädchen auf der Höhlenzeichnung in den Canyons. In einem bestimmten Rhythmus, einem genauen Takt.
Tanze ich?
Kapitel 11
Ky
»Springst du heute auch?«, fragt mich einer der anderen Piloten. Unsere Einheit marschiert den Weg am Fluss entlang, der sich quer durch Camas windet. An einer Stelle – flussabwärts nahe der Stadthalle und der Barrikade – fließt er mehrere Stromschnellen hinunter. Ein Reiher streift neben uns die Wasseroberfläche.
»Nein«, erwidere ich und versuche, dabei nicht allzu gereizt zu klingen. »Was soll das eigentlich?«
»Das ist ein Zeichen unserer Zusammengehörigkeit«, antwortet der Fragende. Ich drehe mich um und sehe ihn ein wenig genauer an.
»Arbeiten wir nicht alle für die Erhebung?«, frage ich. »Reicht das nicht an Zusammengehörigkeit?«
Der andere Pilot sagt nichts mehr und beschleunigt seine Schritte, so dass ich allein am Ende unserer Gruppe zurückbleibe. Wir haben ein paar Stunden freibekommen, und alle wollten in die Stadt gehen. Viele von uns empfinden es noch immer als gefährlich und aufregend, frei durch die Straßen einer Stadt zu schlendern, die bis vor kurzem noch im Bann der Gesellschaft stand, obwohl die Erhebung inzwischen seit Wochen in Camas regiert. Wie erwartet, war Camas am leichtesten zu erobern und fiel als Erstes. Hier leben und arbeiten zahlreiche Aufständische.
Indie lässt sich zurückfallen und gesellt sich zu mir. »Du solltest mitspringen«, rät sie mir. »Die anderen machen es auch alle.«
Einige der anderen haben bereits begonnen, ins Wasser zu springen. Obwohl der kalendarische Frühling eingesetzt hat, ist der von Gebirgswasser gespeiste Fluss eiskalt. Ich habe nicht vor hineinzuspringen. Ich bin kein Feigling, aber auch nicht blöd. Das hier ist nicht das sichere, beheizte Schwimmbecken in der Ahornsiedlung. Nach dem Sisyphus-Fluss und dem Tod von Vick habe ich Gewässern gegenüber ein gesundes Misstrauen entwickelt.
Viele Leute schlendern heute am Fluss entlang. Die Sonne wärmt unsere Rücken. Die Erhebung hat alle gebeten, vorerst ihre von der Gesellschaft zugewiesenen Berufe weiter auszuüben, bis die Seuche vollständig unter Kontrolle ist, daher sind viele Leute bei der Arbeit. Dennoch kommen Kindergärtnerinnen mit den Kleinen an den Fluss und erlauben ihnen, Steine hineinzuwerfen, und Arbeiter mit ihren Essensbehältern genießen die neue Freiheit, ihr Mittagessen dort zu verzehren, wo sie wollen. All diese Leute müssen gegen das Virus der Seuche immun oder bereits von ihr geheilt worden sein, um sich so ungehindert bewegen zu können. Sie sind wie wir. Sie wissen, dass ihnen nichts
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