Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
wohin sie geflüchtet sind. Ob sie etwas in den Archiven zurückgelassen haben?
Gerade will ich nachsehen, als ich Schritte auf der Treppe höre. Ich wirbele herum und hebe meine Lampe, um den Ankömmling zu blenden.
»Cassia?« Ich erkenne die Stimme. Die Chefarchivistin! Sie ist zurückgekehrt. Ich senke den Lampenstrahl, damit sie mich sehen kann.
»Ich habe gehofft, Sie hier anzutreffen«, sagt sie. »In Central ist es nicht mehr sicher.«
»Was ist denn geschehen?«
»Die Gerüchte über eine mutierte Form des Virus haben sich bewahrheitet«, antwortet sie. »Und wir haben die Bestätigung, dass sich diese auch hier in Central verbreitet hat.«
»Deshalb sind Sie also geflüchtet«, stelle ich fest.
»Ja, weil wir am Leben bleiben möchten«, erwidert sie. »Aber ich habe hier etwas für Sie.« Sie zieht ein Blatt Papier aus ihrem Rucksack. »Das hier ist endlich eingetroffen.«
Das Papier ist sehr alt und mit dunklen, tief eingeprägten Buchstaben bedruckt, ganz anders als die glatten Ausdrucke aus den Terminals. Es sind zwei Gedichtstrophen, die beiden, die mir noch gefehlt haben. Obwohl die Zeit drängt und von allen Seiten Gefahr lauert, kann ich nicht anders, als einen Blick darauf zu werfen und gierig einen Teil des Gedichts zu lesen:
Die Sonne schwindet – das ist Nacht –,
Bevor sie neu erbrennt.
Das Mittelmeer scheint überquert,
Fast wünschten wir, das End
Wär weiter fort – die Furcht erwacht,
Wenn man das Ziel erkennt.
Ich würde es gerne zu Ende lesen, aber ich spüre den Blick der Chefarchivistin und sehe sie an. Ja, auch hier ist etwas schiefgelaufen, und die Nacht bricht herein. Nähere ich mich meinem Ende? Fast fühlt es sich so an – dass ich nicht mehr sehr viel weiter gehen kann, weil ich schon von so weit her gekommen bin –, obwohl noch nichts zu Ende gebracht zu sein scheint.
»Danke«, sage ich.
»Ich bin froh, dass ich rechtzeitig gekommen bin«, sagt sie. »Ich bin noch nie jemandem etwas schuldig geblieben.«
Ich falte das Blatt Papier mit dem Gedicht wieder zusammen und schiebe es in meinen Ärmel. Mit unbewegtem Gesicht, aber in dem Bewusstsein, dass sie die Provokation heraushören wird, sage ich: »Ich bin dankbar für das Gedicht, aber dennoch sind Sie mir noch etwas schuldig. Der Mikrochip, für den ich bezahlt habe, ist nie angekommen.«
Das Echo ihres kurzen Auflachens hallt in den leeren Archiven wider. »Doch, auch der Mikrochip ist angekommen«, erwidert sie. »Er wird Ihnen in Camas ausgehändigt werden.«
»Eine Reise nach Camas kann ich mir nicht leisten«, entgegne ich. Woher weiß sie, dass ich nach Camas will? Kann sie mich wirklich dorthin bringen, oder spielt sie ein grausames Spiel mit mir? Mein Herz schlägt schneller.
»Sie brauchen die Reise nicht zu bezahlen«, sagt die Archivistin. »Gehen Sie zu Ihrer Galerie und warten dort. Jemand von der Erhebung wird Sie von hier fortbringen.«
Die Galerie. Ich habe sie nie verborgen gehalten, aber sie auf diese Weise zu benutzen, hinterlässt ein Gefühl der Bitterkeit. »Ich verstehe das nicht«, sage ich.
Die Archivistin zögert einen Augenblick und sagt dann verhalten: »Ihre Handelsware … war für einige von uns von großem Interesse.«
Wieder klingt sie wie meine Funktionärin damals. Nicht ich interessierte sie, sondern meine Daten.
Als meine Funktionärin behauptete, die Gesellschaft habe Ky in den Paarungspool eingespeist, las ich die Lüge in ihren Augen. Sie wusste keineswegs, wie er hineingeraten war.
Ebenso wie damals vermute ich heute, dass die Archivistin etwas vor mir verbirgt.
Ich habe so viele Fragen!
Wer hat Ky in den Paarungspool eingespeist?
Wer hat für meine Flucht aus Central bezahlt?
Wer hat meine Gedichte gestohlen?
Auf die letzte Frage glaube ich die Antwort zu wissen. Jeder misst etwas anderem besondere Bedeutung bei und ist bereit, dafür etwas herzugeben . Das waren die Worte der Archivistin. Manchmal wissen wir noch nicht einmal, was das Wertvollste für uns ist, bis wir damit konfrontiert werden. Die Archivistin konnte allen Schätzen in ihrem Archiv widerstehen, doch meine Gedichte, die nach Sandstein und Wasser rochen und nur eine Armeslänge entfernt waren, waren unwiderstehlich für sie.
»Ich habe bereits für meine Reise bezahlt, nicht wahr?«, frage ich. »Und zwar mit meinen Gedichten aus dem See.«
Es ist so still hier, tief unter der Erde.
Wird sie es zugeben? Ich bin mir sicher, dass ich recht habe. Doch die undurchdringliche, steinerne
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