Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
Miene verrät mir viel weniger als der flackernde Blick meiner Funktionärin, als sie mich damals anlog. Doch auch diesmal spüre ich die Wahrheit. Die Funktionärin wusste von nichts. Die Archivistin aber hat meine Gedichte gestohlen.
»Meine Verpflichtungen Ihnen gegenüber sind hiermit erfüllt«, sagt die Chefarchivistin und wendet sich zum Gehen. »Ich habe Sie über die Möglichkeit einer Flucht nach Camas informiert. Es liegt jetzt an Ihnen, die Chance zu ergreifen oder nicht.« Sie wendet sich vom Strahl meiner Taschenlampe ab und verschwindet in der Dunkelheit. »Auf Wiedersehen, Cassia«, sagt sie noch.
Dann ist sie weg.
Wer wird mich an der Galerie erwarten? Stimmt die Geschichte mit der Reise nach Camas oder war es ein letzter Betrug? Hat sie sie für mich arrangiert, vielleicht aufgrund ihrer Gewissensbisse wegen des Diebstahls der Gedichte? Ich weiß es nicht. Ich kann ihr nicht mehr vertrauen. Ich reiße das rote Armband ab, das mich als Händlerin im Auftrag der Archivisten ausgewiesen hat, und lege es in ein Regal. Ich brauche es nicht mehr, denn es hat nicht mehr die Bedeutung, die ich ihm beigemessen habe.
Zurück im Archiv, entdecke ich meine Schachtel, die dort allein im Regal steht. Als ich sie öffne und den Inhalt in Augenschein nehme, stelle ich fest, dass ich nichts von alldem haben möchte. Die Gegenstände gehören alle zum Leben Anderer, und ich habe das Gefühl, dass sie keinen Platz mehr in meinem eigenen haben.
Nur das Gedicht, das ich von der Archivistin erhalten habe, werde ich aufbewahren, denn das ist echt. Die Archivistin mag mich bestohlen haben, aber eine Fälschung traue ich ihr nicht zu. Ja, das Gedicht ist echt. Das weiß ich genau.
Wir schreiten leicht, wie Schnee wir stehen,
Bei dieser Zeile halte ich inne und erinnere mich daran, wie wir in den Canyons auf dem Felsen standen und im Schnee nach Ky Ausschau hielten. Und daran, wie wir am Ufer des Flusses Abschied nahmen …
Die Wasser murmeln leis.
Flüsse, Wüsten, Berg und Meer
Sind von uns durchlaufen.
Doch Tod entreißt mir meinen Preis,
Dich schauend, er gewinnt.
Nein.
Das kann nicht stimmen. Ich lese die beiden letzten Zeilen noch einmal.
Doch Tod entreißt mir meinen Preis,
Dich schauend, er gewinnt.
Ich schalte meine Taschenlampe aus und rede mir ein, dass das Gedicht keinen Bezug zur Wirklichkeit hat. Worte besitzen schließlich nur die Bedeutung, die man in sie hineininterpretiert. Das sollte ich doch mittlerweile wissen!
Einen Moment lang gerate ich in Versuchung, hier unten zu bleiben, verborgen im Labyrinth der Regalreihen und Räume. Hin und wieder könnte ich an die Oberfläche steigen, um Nahrungsmittel und Papier zu besorgen, denn was brauche ich schon mehr zum Leben? Ich könnte Geschichten schreiben, ich könnte mich vor der Außenwelt verstecken und mir meine eigene Welt erschaffen, anstatt zu versuchen mich anzupassen. Ich könnte mir imaginäre Gefährten auf Papier zaubern und diese lieben.
In einer Geschichte kann man zum Anfang zurückkehren und von vorne beginnen, so dass alle ihr Leben noch einmal erfahren.
In der Realität funktioniert das nicht. Außerdem liebe ich die wirklichen Menschen am meisten. Bram. Meine Mutter. Meinen Vater. Ky. Xander.
Kann ich noch irgendjemandem vertrauen?
Ja. Meiner Familie natürlich.
Ky.
Xander.
Keiner von uns würde den anderen verraten.
Bevor ich hierherkam, habe ich mit Indie zusammen einen Fluss bezwungen, von dem wir nicht wussten, ob er uns womöglich vergiften würde und ob er uns an unser gewünschtes Ziel brächte. Wir haben uns auf ein gefährliches Abenteuer mit ungewissem Ausgang eingelassen, und wenn ich daran denke, spüre ich jetzt noch die Gischt auf meiner Haut und die Wellen, die uns zum Kentern brachten.
Damals war es die Sache wert.
Wieder denke ich an die Höhle in den Canyons. Sie und die Archive vermischen sich in meiner Phantasie – die schlammigen, versteinerten Knochen und die sterilen kleinen Röhrchen, die leeren Regale und der wasserfleckige Boden. Mir wird klar, dass ich es an diesen unterirdischen Orten nie lange aushalten werde und mich schon bald nach frischer Luft sehne.
Ich beschließe, das Risiko einer Reise nach Camas einzugehen. Man kann seinem Leben keine andere Wendung geben, wenn man am selben Punkt verharrt.
Ich verstecke mich hinter den Bäumen der Alleen. Als ich die Hand um den Stamm einer kleinen Weide im Park lege, spüre ich, dass in die Rinde Buchstaben eingeritzt sind, und diesmal ist
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