Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
Geschichte über den Steuermann.«
»Ich glaube aus eigener Überzeugung an den Steuermann«, erwidert Indie. »Ich weiß, dass es ihn gibt.« Sie lehnt sich zu mir herüber, und ich glaube schon, sie will mich wieder küssen, wie sie es vor ein paar Wochen getan hat. »Die Steindörfer gibt es auch«, flüstert sie, »und Anderland ebenfalls. Alles ist wahr.«
Ihre Stimme klingt genauso leidenschaftlich wie die von Caleb. Ich weiß, was sie bewegt. Indie liebt mich, aber sie ist stark. Als ich ihr sagte, dass ich nicht mit ihr zusammen flüchten würde, wandte sie sich etwas anderem zu, um darüber hinwegzukommen. Ich glaube an Cassia. Indie glaubt an die Erhebung und den Steuermann. Wir haben beide etwas gefunden, was uns aufrechthält.
»Alles hätte anders kommen können«, flüstere ich fast unhörbar. Wenn ich Indies Kuss erwidert hätte. Wenn ich Cassia nicht getroffen hätte, bevor ich Indie kennenlernte.
»Aber das ist es nicht«, entgegnet Indie, und sie hat recht.
Kapitel 20
Cassia
Die Welt steht kopf.
Ich schaue aus dem Fenster meiner Wohnung und lege meine Hand an die Scheibe. Es ist dunkel draußen. Scharen von Menschen versammeln sich vor der Barrikade, wie sie es jetzt oft abends tun, und schon bald wird die Erhebungspolizei in ihren schwarzen Uniformen kommen und die Menge zerstreuen. Wie Blütenblätter im Wind, wie Laub auf dem Wasser.
Die Erhebung hat uns nicht genau erklärt, was geschehen ist, aber in den letzten paar Wochen durfte keiner von uns die Wohnung verlassen. Wenn irgend möglich, erledigen wir unsere Aufgaben an einem Terminalarbeitsplatz zu Hause. Jede Kommunikation mit den anderen Provinzen ist abgerissen. Die Erhebung behauptet, das sei nur vorübergehend, und der Steuermann hat versprochen, bald sei das alles vorbei.
Es fängt an zu regnen.
Wie wäre es wohl gewesen, eine Springflut in den Canyons von so hoch oben zu beobachten? Ich hätte gerne einmal am Rande einer Schlucht gestanden und das ferne Donnern gespürt. Ich hätte die Augen geschlossen, um das Wasser zu hören, und sie dann wieder geöffnet, um seine angerichteten Verwüstungen zu sehen – fortgespültes Geröll, umgerissene Bäume. Wie das Ende der Welt.
Vielleicht werde ich gerade Zeugin von etwas ganz Ähnlichem.
Ein Gong ertönt in meiner Küche. Das Abendessen ist eingetroffen, aber ich habe keinen Hunger. Ich weiß, was es zu essen gibt – die Notration. Wir erhalten inzwischen nur noch zwei Mahlzeiten pro Tag. Irgendwann werden auch die letzten Rationen aufgebraucht sein. Wie soll es dann weitergehen?
Sobald wir uns krank und müde fühlen, müssen wir das über Terminal melden. Dann wird Hilfe geschickt. Doch angenommen, man versinkt im Schlaf? Dieser Gedanke lässt mich nachts nicht schlafen. Ich finde ohnehin kaum noch Ruhe.
Ich hole die Mahlzeit aus der Lieferklappe – kalt, farblos und geschmacksneutral. Die Vorräte der Gesellschaft, geliefert von der Erhebung.
Ich habe manches von den Archivisten erfahren, zum Beispiel, dass die Nahrungsmittel knapp werden und daher wertvoll sind. Deshalb habe ich sie dazu benutzt, um mir den Weg aus dem Gefängnis meiner Wohnung freizukaufen. Ich bringe die Mahlzeit dem Erhebungswachmann am Eingang unseres Gebäudes. Er ist jung, hungrig und verständnisvoll.
»Passen Sie gut auf sich auf!«, mahnt er mich und hält mir die Tür auf, durch die ich hinaus in die Nacht schlüpfe.
Ich ertaste mir den Weg die Steinstufen hinunter, die Hände an die Mauern gedrückt. Ich rieche den vertrauten Pflanzengeruch und spüre das weiche Moos. Vom Regen ist der Untergrund rutschig, ich muss mich konzentrieren und den Strahl meiner Taschenlampe ruhig halten.
Am Ende des Gangs angekommen, werde ich nicht wie üblich von Taschenlampen geblendet. Niemand schwenkt seinen Lichtstrahl in meine Richtung, als ich durch die Tür trete.
Die Archivisten sind fort.
Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter, als ich daran denke, wie sehr mich dieser Ort an die Krypta aus den Hundert Geschichtslektionen in der Schule erinnert hat. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie die Archivisten sich in die Regale gelegt, die Hände über der Brust gefaltet und vollkommen reglos auf den Tod gewartet haben.
Langsam lasse ich den Strahl meiner Taschenlampe über die Regale wandern.
Sie sind leer. Natürlich. Egal, welchen Lauf die Geschichte nimmt, die Archivisten werden überleben. Aber sie haben mir nicht gesagt, dass sie fortgehen wollten, und ich habe keine Ahnung,
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