Cassia & Ky – Die Flucht
unserer Siedlung, seine Geschichte auf Papier übermittelt. Zwei Jungen, zwei Geschichten auf Papierfetzen, weitergereicht an mich. Meine Augen brennen vom Weinen, denn Xanders Geschichte hätte ich längst kennen müssen.
Sieh mich noch einmal an,
scheint er zu sagen.
Ich drücke eine weitere Tablette aus der Verpackung. Auf dem nächsten Schnipsel steht:
Vollständiger Name: Xander Thomas Carrow.
Unwillkürlich denke ich daran, wie ich als Kind in der Siedlung darauf wartete, dass Xander raus zum Spielen kam.
»Xander. Thomas. Carrow!«, rief ich und sprang auf dem Weg zu seinem Haus von einem Stein zum anderen. Ich war noch klein und vergaß oft, leise zu sein, wenn ich mich anderen Häusern näherte. Ich fand Xanders Namen angenehm auszusprechen. Er klang genau richtig. Jedes Wort hatte zwei Silben, ein perfekter Marschrhythmus.
»Du musst nicht so schreien«, sagte Xander, als er die Tür öffnete und mich anlächelte. »Ich bin doch hier.«
Ich vermisse Xander und kann mich nicht beherrschen. Ich muss immer mehr von den Tabletten auspacken, nicht, um sie zu schlucken, sondern, um die Schnipsel zu lesen:
Lebt seit seiner Geburt in der Ahornsiedlung.
Liebste Freizeitaktivität: Schwimmen.
Liebste Freizeitbeschäftigung: Spielen.
87 , 6 Prozent der Gleichaltrigen haben auf die Frage, welchen Schüler sie am meisten bewunderten, Xander Carrow angegeben.
Lieblingsfarbe: Rot.
Das ist eine Überraschung. Ich habe immer geglaubt, Xanders Lieblingsfarbe sei Grün. Was sonst habe ich bisher nicht über ihn gewusst?
Ich lächle und fühle mich schon kräftiger. Indie schläft immer noch. Ich aber habe ein unstillbares Verlangen, mich zu bewegen, deshalb gehe ich hinaus, um mich in der Umgebung, in die wir bei Dunkelheit gelangt sind, näher umzusehen.
Auf den ersten Blick sind wir einfach an eine breitere Stelle der Schlucht gelangt, wie so viele andere auch, die Felsen von Höhlen durchlöchert, übersät mit herabgestürzten Felsbrocken und gesäumt von welligen, glattgewaschenen Wänden. Doch bei genauerem Hinsehen unterscheidet sich eine Wand auffällig von den anderen.
Ich durchquere das trockene Flussbett und lege meine Hand auf das Gestein. Es fühlt sich rau an, aber irgendwie falsch. Zu perfekt.
Das verrät mir, dass die Gesellschaft dahintersteckt. Ich betrachte die Risse in der perfekten Oberfläche und denke an die rhythmischen Atemzüge der Frau in einem der Hundert Lieder und wie Ky mir erzählt hat, die Gesellschaft wüsste, dass wir die Sänger gerne atmen hörten. Wir möchten gerne glauben, sie seien menschlich, doch selbst diese Menschlichkeit, die man uns präsentiert, ist künstlich und genau berechnet.
Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Wenn die Gesellschaft hier ist, kann die Erhebung es nicht sein.
Ich gehe an der Wand entlang und streife mit den Fingern darüber, auf der Suche nach dem Übergang zwischen Gesellschaft und Natur. Als ich mich einem dichten Gestrüpp dunkler Büsche nähere, sehe ich etwas auf dem Boden liegen.
Es ist der Junge. Der, der mit uns zu unserer Schlucht gelaufen ist und stattdessen den Weg in diese Schlucht eingeschlagen hat.
Er liegt zusammengerollt auf der Seite. Seine Augen sind geschlossen. Eine dünne Schicht Staub, aufgewirbelt vom Wind, bedeckt seine Haut, seine Haare und seine Kleider. Seine Hände sind blass und mit Blut befleckt, genau wie der Teil der Felswand, an dem er gekratzt und gekratzt hat, ohne hineinzugelangen. Ich schließe die Augen. Der Anblick des geronnenen roten Blutes und der Staubkristalle erinnert mich an den Zucker und die blutroten Beeren auf Großvaters Strudel. Mir wird übel.
Ich öffne die Augen wieder und betrachte den Jungen. Kann ich irgendetwas für ihn tun? Ich beuge mich zu ihm hinunter und sehe, dass seine Lippen blau verfärbt sind. Da ich keine Erste-Hilfe-Ausbildung habe, weiß ich beinahe nichts darüber, wie man Menschen helfen kann. Er atmet nicht. Ich fühle die Stelle an seinem Handgelenk, wo, wie ich gelernt habe, der Puls gemessen wird, aber ich spüre nichts.
»Cassia!«
, flüstert eine Stimme, und ich wirbele herum.
Indie. Ich atme erleichtert auf. »Der Junge aus dem Dorf«, sage ich.
Indie hockt sich neben mich. »Er ist tot«, stellt sie fest und schaut sich seine Hände an. »Was hat er getan?«
»Ich glaube, er hat versucht, reinzukommen«, sage ich und zeige auf die Stelle. »Es sieht aus wie Felsen, ist aber nicht echt. Ich glaube, da ist ein Eingang.« Indie stellt sich neben
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