Cassia & Ky – Die Flucht
Polizisten, bevor sie deklassifiziert wurden?«, fragt mich Vick.
Ich lache. Mein Vater ein Polizist? Oder meine Mutter, eine Polizistin? Die Vorstellung ist aus mehreren Gründen lächerlich. »Nein«, antworte ich. »Warum?«
»Weil du dich mit Waffen auskennst«, sagt er. »Und mit der Verdrahtung in unseren Mänteln. Ich habe mich gefragt, ob deine Mutter oder dein Vater dir das beigebracht haben.«
»Ja, mein Vater«, antworte ich. »Aber er war kein Polizist.«
»Hat er das auch von den Farmern gelernt? Oder von der Erhebung?«
»Nein«, sage ich. »Einiges hat er von der Gesellschaft gelernt. Er brauchte es für seine Arbeit.« Das meiste hatte er sich selbst beigebracht. »Und deine Eltern?«
»Mein Vater war Offizier«, antwortet er, und das überrascht mich nicht. Man merkt es Vick an: an seiner Haltung, seiner Fähigkeit, die Führung zu übernehmen, seinem Wissen über die Armeequalität der Mäntel, ergänzt von der Tatsache, dass er auf Militärbasen gelebt hat. Was ist wohl geschehen, das die Deklassifizierung des Mitglieds einer so hochgestellten Familie rechtfertigt hätte? Einer Offiziersfamilie?
»Meine Eltern sind tot«, sagt Eli, als deutlich wird, dass Vick nichts weiter sagen will.
Obwohl ich es bereits erraten habe, tut es mir in Seele weh, ihn das sagen zu hören.
»Wie ist es passiert?«, fragt Vick.
»Meine Eltern sind krank geworden. Sie sind in einem Krankenhaus in Central gestorben. Danach hat man mich weggeschickt. Wenn ich ein Bürger gewesen wäre, hätte mich jemand adoptieren können. Aber ich war es nicht. Ich bin eine Aberration, solange ich denken kann.«
Seine Eltern sind krank geworden? Und gestorben? So etwas sollte normalerweise nicht vorkommen – und es kam nie vor, soweit ich wusste –, jedenfalls nicht bei so jungen Leuten, wie Elis Eltern gewesen sein mussten, nicht mal bei Aberrationen. So jung stirbt man nicht, es sei denn, man lebt in den Äußeren Provinzen. Aber auf keinen Fall in Central. Ich hatte angenommen, sie seien den Tod gestorben, den man auch Eli zugedacht hatte, irgendwo draußen in den Dörfern.
Aber Vick wirkt nicht überrascht. Ich weiß nicht, ob er sich Elis wegen beherrscht oder ob ihm die Geschichte bekannt vorkommt.
»Das tut mir so leid, Eli!«, sage ich. Ich habe Glück gehabt. Wenn der Sohn von Patrick und Aida nicht gestorben wäre und Patrick sich nicht so sehr für mich eingesetzt hätte, wäre ich nie nach Oria gekommen. Wahrscheinlich wäre ich schon tot.
»Mir tut es auch leid«, sagt Vick.
Eli antwortet nicht. Er rutscht näher ans Feuer und schließt die Augen, als habe das Reden ihn ermüdet. »Ich will nicht weiter darüber sprechen«, sagt er leise. »Ich wollte nur, dass ihr es wisst.«
Nach einer Pause wechsle ich das Thema. »Eli«, frage ich, »was hast du aus der Höhle der Farmer mitgebracht?«
Eli öffnet die Augen und zieht den Rucksack über den Boden zu sich hin. »Die Bücher sind schwer, deswegen konnte ich nicht viele mitnehmen«, sagt er. »Ich habe nur zwei. Aber schaut mal: Sie sind voll mit Wörtern und Bildern!« Er öffnet sie, um sie uns zu zeigen. Eine Abbildung zeigt eine riesige geflügelte Kreatur mit kunterbuntem Rücken, die sich über einem großen Steinhaus durch den Himmel schwingt.
»Ich glaube, mein Vater hat mir von diesen Büchern erzählt«, sage ich. »Das waren Geschichten für Kinder. Sie konnten die Bilder anschauen, während die Eltern ihnen vorlasen. Wenn die Kinder dann älter wurden, konnten sie die Texte selber lesen.«
»Die müssen viel wert sein!«, meint Vick.
Ich bin anderer Meinung. Elis Bücher werden sich nicht leicht gegen irgendetwas eintauschen lassen. Die Geschichten können zwar kopiert werden, die Bilder aber nicht. Doch als Eli danach gegriffen hat, dachte er nicht an ihren Handelswert.
Wir sitzen am schwelenden Feuer und lesen die Geschichten über Elis Schulter hinweg. Einige Wörter kennen wir nicht, aber wir verstehen ihre Bedeutung, wenn wir die Bilder betrachten.
Eli gähnt und klappt das Buch zu. »Wir können sie uns morgen wieder anschauen«, sagt er energisch, und ich grinse in mich hinein, als er die Werke in seinen Rucksack packt. Er scheint uns sagen zu wollen:
Ich habe sie mitgebracht, und ihr dürft sie euch nur ansehen, wenn
ich
es erlaube
.
Ich hebe ein Stöckchen auf und schreibe Cassias Namen in den Staub. Elis Atem geht langsamer, als er einschläft.
»Ich habe auch ein Mädchen geliebt«, sagt Vick einige Minuten später zu mir.
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