Cassia & Ky – Die Flucht
»Zu Hause in Camas.« Er räuspert sich.
Vicks Geschichte. Ich habe nicht geglaubt, dass er sie erzählen würde. Aber irgendwie macht das Feuer uns heute Abend alle redselig. Ich denke kurz nach, um nicht die falsche Frage zu stellen. Ein Stück Holzkohle glüht auf und erlischt wieder. »Wie hieß sie?«, frage ich dann.
Vick zögert. »Laney«, sagt er schließlich. »Sie hat auf der Basis gearbeitet, wo wir gewohnt haben. Sie hat mir von dem Steuermann erzählt.« Er räuspert sich. »Natürlich hatte ich schon vorher von ihm gehört, und auf der Basis fragten sich manche, ob vielleicht einer der Offiziere der Steuermann sei. Doch Laney und ihre Familie sahen das anders. Wenn sie vom Steuermann sprachen, hatte es eine tiefere Bedeutung.«
Er betrachtet die Stelle, an der ich Cassias Namen wieder und wieder in die Erde gekratzt habe. »Ich wünschte, ich könnte das«, sagt er. »In Camas hatten wir nur Schreibcomputer und Terminals.«
»Ich kann es dir beibringen.«
»Nein, mach du das«, erwidert er. »Darauf.« Er schiebt mir ein Stück Holz hin. Pappelholz, wahrscheinlich von der Baumgruppe, bei der wir gefischt haben. Mit meinem scharfen Stein fange ich an zu schnitzen, ohne Vick anzusehen. Neben uns liegt Eli und schläft ruhig weiter.
»Sie hat auch gerne geangelt«, fährt Vick fort. »Wir haben uns immer am Fluss getroffen. Sie …« Vick hält kurz inne. »Mein Vater ist wahnsinnig wütend geworden, als er es herausgefunden hat. Ich kannte seine Wutanfälle, also wusste ich, was mich erwartete. Aber ich habe mich davon nicht beirren lassen.«
»Leute verlieben sich eben ineinander«, sage ich mit heiserer Stimme. »So was passiert nun mal.«
»Aber nicht Bürger in Anomalien«, erwidert Vick. »Und die meisten feiern ihren Vertrag nicht.«
Ich halte den Atem an. Sie war eine
Anomalie
? Sie haben ihren Vertrag gefeiert?
»Die Gesellschaft hat das nicht sanktioniert«, sagt Vick. »Aber als es so weit war, habe ich mich gegen eine Paarung entschieden und stattdessen Laneys Eltern um Erlaubnis gefragt, einen Vertrag mit ihr schließen zu dürfen. Sie haben
Ja
gesagt. Die Anomalien haben ihre eigene Zeremonie. Sie wird von keinem anerkannt. Außer von ihnen selbst.«
»Das wusste ich gar nicht«, antworte ich und treibe den Achat tiefer in das Holz. Ich habe überhaupt nicht gewusst, dass Anomalien, außer denen in den Bergen, noch bis vor so kurzer Zeit in direkter Nähe zur Gesellschaft gelebt haben. In Oria hatte seit Jahren niemand eine gesehen oder von einer gehört, außer dem Mann, der meinen Cousin, den ersten Markham-Jungen, umgebracht hat.
»Ich habe ihre Eltern an dem Tag gefragt, an dem ich die Regenbogenforelle gefangen habe«, fährt Vick fort. »Ich habe sie aus dem Fluss gezogen und ihre Farben in der Sonne schillern sehen. Als ich erkannte, was ich gefangen hatte, habe ich sie sofort wieder ins Wasser gesetzt. Als ich ihren Eltern davon erzählte, sagten sie, es sei ein gutes Omen. Ein Zeichen. Weißt du, was das ist?«
Ich nicke. Mein Vater hat manchmal von Zeichen gesprochen.
»Seitdem habe ich keine mehr gesehen«, sagt Vick. »Eine Regenbogenforelle, meine ich. Und letztendlich war es kein gutes Omen.« Er atmet tief durch. »Nur zwei Wochen später erfuhr ich, dass die Funktionäre hinter uns her waren. Ich wollte zu ihr, aber sie war schon weg. Sie und ihre ganze Familie.«
Vick streckt die Hand nach dem Stück Pappelholz aus. Ich gebe es ihm zurück, obwohl ich noch nicht fertig bin. Er dreht es herum und betrachtet den ersten Teil ihres Namens – LAN – fast nur gerade Striche. Wie Kerben in einem Stiefel. Und plötzlich weiß ich, was seine Markierungen bedeuten. Nicht etwa die Zeit, die er in den Äußeren Provinzen überlebt hat, sondern die Zeit ohne sie.
»Die Gesellschaft hat mich geschnappt, noch bevor ich zu Hause angekommen war«, erzählt Vick. »Man hat mich sofort in die Äußeren Provinzen abtransportiert.« Er gibt mir die Schnitzerei zurück, und ich setze meine Arbeit fort. Der Schein des Feuers bringt den Achat zum Schillern, wie es auch das Sonnenlicht mit den Schuppen der Regenbogenforelle getan haben muss, als Vick sie aus dem Wasser zog.
»Was ist mit deiner Familie geschehen?«, frage ich Vick.
»Nichts, hoffe ich«, erwidert er. »Die Gesellschaft hat mich natürlich sofort deklassifiziert. Aber ich bin kein Elternteil. Meiner Familie müsste es gutgehen.« Ich höre die Unsicherheit aus seiner Stimme heraus.
»Ganz bestimmt«,
Weitere Kostenlose Bücher