Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
Pause. Wir hatten gerade Unserer-Jane und Keith zugesehen, wie begeistert sie an ihrem Eis schleckten. Es war wirklich rührend. Kein Wunder, daß sie die Sonntage so liebten; am Sonntag erhielten sie den einzigen Festschmaus, den sie je in ihrem Leben kennengelernt hatten.
Kaum waren wir mit dem Eis fertig, erschienen Mutter und Vater in der Tür des Drugstores. »Kommt«, rief Vater, »wir fahren nach Hause – oder wollt ihr laufen?«
Jetzt erst entdeckte er Miß Deale, die gerade für Unsere-Jane und Fanny die Bonbons bezahlte, die sie sich Stück für Stück ausgesucht hatten. Er ging mit großen Schritten auf uns zu. Er trug einen cremefarbenen Anzug, den meine Mutter ihm auf ihrer zweiwöchigen Hochzeitsreise in Atlanta gekauft hatte – wie Großmutter erzählt hatte. Wenn ich ihn nicht gekannt hätte, wäre mir Vater in seinem Anzug wie ein Gentleman vorgekommen.
»Sie sind sicher die Lehrerin, von der meine Kinder die ganze Zeit so viel erzählen«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Sie wich zurück, ihre Bewunderung für ihn schien erloschen, seitdem ich ihr erzählt hatte, daß er »Shirley’s Place« besuchte.
»Ihre älteste Tochter und Ihr ältester Sohn sind meine begabtesten Schüler«, sagte sie kühl, »was Sie mittlerweile bestimmt wissen, denn ich habe Ihnen schon oft über Ihre Kinder geschrieben.« Sie erwähnte weder Fanny noch Keith, noch Unsere-Jane, die nicht in ihrer Klasse waren. »Ich hoffe, Sie sind stolz auf Heaven und Tom.«
Überrascht sah Vater kurz zu Tom und mir. Miß Deale hatte ihm zwei Jahre lang geschrieben, wie intelligent sie uns fand. Die Schule in Winnerrow war so begeistert über Miß Deales Engagement für die unterprivilegierten Kinder aus den Bergen (die man oft für geistig behindert hielt), daß man ihr die Erlaubnis gegeben hatte, unsere Klasse von Jahr zu Jahr weiterzuführen.
»Das sind ja erfreuliche Nachrichten, die man an einem so schönen Sonntag zu hören bekommt«, sagte Vater und versuchte, ihr in die Augen zu blicken. Aber sie weigerte sich, seinen Blick zu erwidern, so als könne sie ihre Augen nicht mehr von ihm abwenden, wenn sie ihn einmal angeschaut hätte. »Ich wollte auch immer schon eine bessere Ausbildung, aber ich hatte nie die Gelegenheit dazu«, erklärte ihr mein Vater.
»Vater«, unterbrach ich ihn mit scharfer Stimme, »wir haben uns entschlossen, nach Hause zu laufen. Mutter und du, ihr könnt schon vorfahren.«
»Will nicht gehen, will fahren«, heulte Unsere-Jane auf.
Sarah stand mit mißtrauisch zusammengekniffenen Augen neben der Tür des Drugstores. Vater machte eine leichte Verbeugung vor Miß Deale. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Miß Deale.« Er neigte sich herunter, nahm Unsere-Jane in einen Arm, hob Keith mit dem anderen hoch und schritt hinaus. Er hatte auf alle Leute im Drugstore wie der kultivierteste, charmanteste Casteel der Welt gewirkt. Die Münder standen offen, als wäre gerade ein Wunder geschehen.
Obwohl ich, um Miß Deale zu warnen, alles über Vater erzählt hatte, leuchtete so etwas wie Bewunderung in ihren himmelblauen, naiven Augen.
Es war ein besonders schöner Tag, die Vögel flogen hoch am Himmel, und die Herbstblätter segelten sanft zu Boden. Mir ging es ebenso wie Keith, der ganz von der Schönheit der Natur gefangengenommen wurde. Ich hörte daher nur halb, was Tom gerade zu mir gesagt hatte, bis ich die vor Überraschung geweiteten Augen Fannys sah. »Nein! Stimmt nicht! Der gutaussehende Junge hat nicht Heaven angeschaut! Mich hat er angeschaut!«
»Welcher Junge denn?«
»Der Sohn des neuen Apothekers, der den Drugstore übernommen hat«, erklärte Tom. »Hast du nicht den Namen Stonewall auf dem neuen Schild im Laden bemerkt? Meine Güte, der war ja schon in der Kirche total hingerissen von dir, Heaven, das muß man wirklich sagen.«
»Lügner!« kreischte Fanny. »Kein Mensch starrt Heaven an, wenn ich in der Nähe bin!«
Tom und ich ignorierten die zeternde Fanny. »Hab’ gehört, er soll morgen in die Schule kommen«, fuhr Tom fort. »Komisches Gefühl, wie der dich so angestarrt hat«, fügte er leicht verlegen hinzu. »Ist mir schon mulmig vor dem Tag, an dem du heiratest und wir nicht mehr so zusammen sind.«
»Wir werden immer zusammenbleiben«, warf ich hastig ein. »Kein Junge wird mich davon überzeugen, daß ich ihn dringender nötig habe als eine Ausbildung.«
3. KAPITEL
L OGAN S TONEWALL
Kaum hatten Tom, Fanny,
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