Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
ihm ein unangenehmes Geheimnis enthüllen wollte. Ich kam mir klein, besudelt und verlassen vor.
»Ich hätte da einen sonderbaren Wunsch, Logan«, sagte ich mit einem leichten Beben in der Stimme. »Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich gerne das Grab meiner Mutter besuchen. Als sie gestorben ist, hat sie mir eine Puppe hinterlassen, die ich nicht aus einem Feuer retten konnte, die aber wichtig gewesen wäre als Beweis meiner Identität, wenn ich nach Boston gehe, um die Familie meiner Mutter aufzusuchen.«
»Du willst dorthin fahren?« fragte er mit verstörter Stimme. »Warum? Wenn wir heiraten, wird meine Familie auch deine sein.«
»Ich muß eines Tages hinfahren. Es ist etwas, was ich tun muß, nicht nur meinetwegen, sondern auch für meine Mutter. Sie ist ihren Eltern fortgelaufen, und sie haben nie wieder etwas von ihr gehört. Sie können noch nicht so alt sein. Bestimmt haben sie sich jahrelang Sorgen um ihre Tochter gemacht. Manchmal ist es besser, die Wahrheit zu erfahren, als immer nur herumzurätseln und zu spekulieren…«
Er wandte sich jetzt von mir ab, obwohl er mit mir Schritt hielt, während wir zusammen den Hügel erklommen.
Bald würden die Blätter die Farbe eines glühenden Hexentranks annehmen. Der Herbst würde kurz in den Bergen weilen. Dort unten im Tal, wo der Wind nicht so heftig wehte, würden Vater und Mutter Stonewall erbost sein über ein Casteel-Mädchen, das nicht gut genug für ihren einzigen Sohn war. Ich nahm seine Hand, und die Liebe, die ich für ihn empfand, war so stark, wie sie nur ganz junge Menschen empfinden können. Im gleichen Augenblick lächelte er mich an und trat auf mich zu. »Muß ich es tausendmal wiederholen, daß ich dich liebe, bevor du mir glaubst? Soll ich auf die Knie fallen und um deine Hand anhalten? Nichts von dem, was du mir erzählen willst, könnte meine Liebe zu dir oder meine Achtung für dich schmälern!«
O doch, es gab da etwas, was ich erzählen könnte, und alles würde sich verändern. Ich hielt seine Hand noch fester umklammert und führte ihn immer höher; wir kamen an schlanken Kiefern, schweren Eichenbäumen und Walnußbäumen vorbei, und der Weg wand sich weiter hinauf, bis nur mehr immergrüne Bäume wuchsen… Und schließlich befanden wir uns auf dem Friedhof. Er hatte nur mehr Platz für wenige Tote. Es gab neuere und bessere Friedhöfe weiter unten, wo es nicht mehr so große Mühe machte, neue Gräber auszuheben.
Niemand mähte das Gras am Grab meiner Mutter, das einsam und verlassen dalag. Es bestand nur aus einem schmalen Hügel, der sich langsam zu senken begann, und einem billigen Grabstein in Form eines Kreuzes.
ENGEL
innigst geliebte Frau
von Thomas Luke Casteel
Ich ließ Logans warme Hand los und fiel auf die Knie. Mit gesenktem Kopf sagte ich mein Gebet auf, bat, daß ich sie eines Tages, eines wunderschönen, gesegneten Tages, im Paradies sehen dürfe.
Auf dem Weg zum Friedhof hatte ich eine rote Rose aus dem Garten des Reverend Wayland Wise gepflückt, und nun steckte ich sie in das billige Marmeladenglas, das ich einmal vor Jahren am Fußende des Grabes in die Erde gedrückt hatte. Es gab kein Wasser in der Nähe, um die Rose frisch zu halten. Die rote Rose mußte bald verwelken und sterben. So wie meine Mutter verblüht und gestorben war, bevor ich sie kennengelernt hatte. Der Wind pfiff durch die Luft und peitschte die Tannenzweige hin und her. Ich kniete am Grab und versuchte, den Mut zu finden, Logan alles zu gestehen.
»Laß uns von hier fortgehen«, bat er beklommen und blickte zur Spätnachmittagssonne, die schnell hinter den Bergen versank.
Ahnte er etwas? War es das gleiche, was ich empfand?
Die vielen kleinen Geräusche der Abenddämmerung schwirrten durch die Luft und hallten durch die Täler und sangen mit dem Wind, der durch die Schluchten brauste und im hohen Gras, das schon seit Jahren nicht mehr gemäht worden war, raschelte.
»Sieht nach Regen aus…«
Ich brachte es immer noch nicht übers Herz, es ihm zu sagen.
»Heaven, was machen wir hier? Sind wir hierher gekommen, damit du kniest und betest und wir darüber ganz vergessen, daß wir leben und uns lieben?«
»Du hast mir nicht richtig zugehört, Logan. Du hast weder richtig hingesehen noch mich verstanden. Dies ist das Grab meiner richtigen Mutter, die mit vierzehn Jahren gestorben ist, als ich zur Welt gekommen bin.«
»Das hast du mir schon mal erzählt«, sagte er leise, kniete sich neben mich und legte seinen Arm um
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