Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
erfahren.
»Warum ist deine Mutter Sarah heute nicht gekommen?«
»Sie ist zu Hause geblieben, sie fühlt sich nicht wohl und ruht sich aus.«
»Tom hat mir gesagt, daß du krank gewesen bist; du siehst aber wieder gesund aus, nur viel dünner.«
»Ich komme bald wieder in die Schule…«
»Und wann werden Keith und Jane wieder in die Schule gehen?« forschte sie weiter und kniff dabei die Augen mißtrauisch zusammen.
»Beiden ging es in letzter Zeit nicht besonders gut…«
»Heaven, ich möchte, daß du ehrlich zu mir bist. Ein Freund ist jemand, auf den du dich verlassen kannst, immer verlassen kannst und der da ist, wenn du Hilfe brauchst. Ein Freund versteht dich. Ich möchte dir helfen, unbedingt. Wenn ich etwas für euch tun kann, dann möchte ich, daß ihr mir sagt, was ihr braucht. Ich bin zwar nicht reich, aber auch nicht arm. Mein Vater hat mir ein kleines Vermögen hinterlassen. Meine Mutter lebt in Baltimore und fühlt sich in letzter Zeit nicht sehr wohl. Bevor ich in die Weihnachtsferien fahre, möchte ich, daß ihr mir sagt, was ich tun kann, um euch das Leben etwas zu erleichtern.«
Hier war meine Chance. Eine solche Gelegenheit würde mir kaum zweimal geboten werden… Aber mein Stolz schnürte mir die Kehle zu und lähmte meine Zunge. Und da ich kein Wort sagte, blieben auch Tom und Großvater stumm. Die vorlaute und unverschämte Fanny hatte sich – glücklicherweise oder unglücklicherweise – schon davongemacht und blätterte in Zeitschriften.
Während ich an der Tür stand und mit mir selbst uneins war, ob es wohl klug sei, Miß Deale alles zu gestehen, wandte sie sich zu Großvater, der wie verloren auf einer Bank an einem kleinen Tisch saß. »Der gute Mann, seine Frau fehlt ihm sehr, nicht wahr?« fragte sie mitleidsvoll. »Und dir bestimmt genauso.« Dann sah sie mir lächelnd in die Augen. »Gerade fällt mir etwas Wunderbares ein. Ein Eis schmeckt zwar gut, aber es ist keine richtige Mahlzeit. Ich wollte eigentlich in einem Restaurant essen. Aber ich gehe nicht gern alleine, die Leute starren einen so an – bitte, macht mir die Freude und kommt mit mir. Dann habt ihr auch Zeit genug, mir zu erzählen, was euch in letzter Zeit zugestoßen ist.«
»Mit Vergnügen«, schrie Fanny begeistert. Sie war plötzlich wieder aufgetaucht und strahlte über das ganze Gesicht. Sie hatte die Nase eines Spürhundes, wenn es umsonst etwas zu essen gab.
»Vielen Dank, aber ich glaube, das können wir nicht annehmen«, sagte ich schnell und bestimmt. Ich war die Gefangene meiner eigenen Halsstarrigkeit, dabei wünschte ich mir die ganze Zeit, daß ich meinen Stolz loswerden könnte und so wäre wie Fanny. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, uns einzuladen, sehr hilfsbereit, aber wir müssen vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause sein.«
»Hören Sie ihr bloß nicht zu, Miß Deale«, kreischte Fanny. »Wir hungern schon, seitdem Vater fortgegangen ist! Mutter ist weg, Großmutter ist tot, und Großvater wird ‘n ganzen Tag brauchen, bis er die Reise zurück gemacht hat. Und wenn wir zu Haus sind, haben wir nichts zum Beißen. Und es wird sowieso dunkel sein, wenn wir oben sind.«
»Vater kann jeden Tag zurück sein«, warf ich hastig ein. »Nicht wahr, Tom?«
»Klar, jeden Augenblick«, bestätigte Tom und blickte sehnsüchtig auf das Restaurant auf der anderen Straßenseite. Wir hatten schon oft in das Restaurant hineingeschaut und uns gewünscht, einmal nur an einem der runden Tische zu sitzen, mit dem frisch gestärkten weißen Tischtuch und der Vase mit der einzelnen Rose darin, mit den Kellnern, die in Schwarz und Weiß gekleidet waren, den hübschen Stühlen mit den roten Samtbezügen; wie wunderschön die Farben zusammenpaßten. Bestimmt duftete es drinnen ganz paradiesisch, gar nicht daran zu denken, wie warm es sicherlich war und wie gut das Essen schmeckte.
»Eure Mutter ist fort…?« fragte Miß Deale, und ihr schönes Gesicht hatte einen eigenartigen Ausdruck angenommen. »Ich habe in der Stadt Gerüchte gehört, daß sie für immer weg sei. Stimmt das?«
»Weiß ich nicht«, antwortete ich kurz angebunden. »Vielleicht ändert sie ihre Meinung und kommt zurück. Sie ist so.«
»Keine Spur!« legte Fanny los. »Sie kommt nie wieder zurück! Sie hat’s auf ‘nen Zettel geschrieben. Vater hat’s gelesen und ist fuchsteufelswild geworden! Dann ist er abgehauen und hinter ihr her… Uns geht’s ganz schlecht, Miß Deale, allen… Haben keine Mutter, keinen Vater nicht, haben
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