Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
Umständen haben. »Jetzt warte noch ein bißchen, ich werde sie dir richten.«
Und das tat ich auch; zog ein dünnes Gummiband am Kragen durch, um die Schultern zu raffen. Nun besaß Unsere-Jane ein langes, schönes, rosafarbenes, weiches Jackenkleid.
»Wo hast du das her?« fragte Fanny, die gerade aus dem Wald zurückkam und sofort Unsere-Jane mißtrauisch beäugte, die fröhlich durch das Zimmer hüpfte und ihr neues Kleid stolz zeigte. »Hab’ dieses rosa Ding noch nie gesehen… Wo hast du’s her?«
»Der Wind hat es gebracht«, antwortete Tom, der seine Jagdgeschichten immer mit überschäumender Phantasie ausschmückte. »Ich lag da aufm Bauch, tief eingegraben im Schnee und wartete, bis irgendwo ein Truthahn mit seinem Kopf hervorlugen würd’, für unseren leckeren Weihnachtsbraten. Ich hatt’ meinen todsicheren Blick auf den Busch geheftet, hinter dem er hockte; meine Flinte war auf ihn gerichtet. Ich kneif also die Augen zusammen, und da fliegt doch so’n rosa Ding durch die Luft. Hab’s fast totgeschossen, aber es landete auf einem Busch und ist doch tatsächlich ‘n Jackenkleid mit ‘nem Etikett, auf dem der Name Unserer-Jane steht.«
»Du lügst«, stellte Fanny fest. »Dümmste, größte Lüge deines Lebens – und du hast bestimmt schon eine Million davon erzählt.«
»Mußt du ja besser wissen, bei deinen vielen Millionen Lügen.«
»Großvater, Tom nennt mich eine Lügnerin! Sag, er soll aufhören!«
»Hör auf, Tom«, sagte Großvater teilnahmslos. »Solltest deine Schwester Fanny nicht ärgern.«
So ging die Zeit dahin, Fanny und Tom stritten sich, Keith und Unsere-Jane blieben still, Großvater schnitzte und wollte nicht gehen, da ihn, wie er behauptete, seine Füße immer schmerzten von den Hühneraugen, wunden Fußballen und anderen Hautentzündungen, während ich davon überzeugt war, daß man sie mit Wasser und Seife hätte kurieren können. Aber Großvater hielt nicht allzuviel von Wasser und Seife; sogar am Samstagabend mußten wir ihn regelrecht zwingen, sich zu waschen. Großvater gab sich alle erdenkliche Mühe, nichts zu tun, außer zu schnitzen.
Fanny fand alle möglichen Entschuldigungen, um sich vor der ihr zugewiesenen Arbeit zu drücken, auch wenn sie nicht in die Schule ging. Schließlich gab ich Fanny auf; wenn es ihr Ziel war, dumm und ungebildet zu bleiben, dann hatte sie es schon mit Auszeichnung erreicht. Wichtig war, daß Tom eine Ausbildung bekam, und darum strengten Tom und ich uns besonders an.
»Na gut«, sagte er traurig lächelnd. »Ich mach’ weiter und lern’ für zwei, damit ich’s dir beibringen kann, wenn ich nach Hause komm’. Wär’s aber nicht doch besser, wenn ich Miß Deale alles erzählte, dann könnt’ sie dir Aufgaben schreiben, die du zu Hause machst. Was meinst du, Heavenly?«
»Wenn du ihr nicht sagst, daß wir hier oben allein sind, daß wir frieren und Hunger haben. Wir wollen doch nicht, daß sie es erfährt, nicht wahr?«
»Wär’ das wirklich so schlimm? Vielleicht könnte sie uns helfen…«, sagte er vorsichtig, aus Angst, ich könnte in die Luft gehen.
»Tom, Miß Deale arbeitet für einen Hungerlohn, wie Logan sagt, und sie ist so großzügig, daß sie alles für uns ausgeben würde. Das dürfen wir nicht zulassen. Hat sie uns nicht außerdem einmal im Unterricht gesagt, daß Armut und Not für Rückgrat und einen festen Charakter sorgen? Mein Lieber, wir werden ein Rückgrat aus Eisen und einen unbezwingbaren Charakter bekommen!«
Er sah mich bewundernd an. »Du hast ja jetzt schon genug unbezwingbaren Charakter und ein eisernes Rückgrat! Wenn du noch mehr davon hättest, würden wir wahrscheinlich verhungern.«
Jeden Tag trottete Tom in die Schule; die Hausaufgaben hatte er immer tadellos gemacht. Nichts konnte ihn aufhalten, keine eisigen Regengüsse, kein Schneeregen, kein Wind, keine Kälte. Er ging immer pünktlich wie die Eisenbahn. Immer den Weg hin und zurück, ohne angemessene Kleidung. Er brauchte eine warme Winterjacke, aber es war kein Geld dafür da. Er brauchte neue Schuhe und Schneestiefel, um seine Füße trocken zu halten, denn die Schuhe, die Vater uns gebracht hatte, paßten niemandem. Manchmal begleitete Fanny Tom, um der Langeweile in der Hütte zu entkommen. Sie lernte nichts, aber sie hatte die Möglichkeit, mit den Jungens zu flirten. Keith ging in die Schule, wenn Unsere-Jane nicht zu krank war, die sonst aus Leibeskräften schrie, wenn er fortging.
Wir badeten weiterhin jeden
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