Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
Samstagabend, die Wanne hatten wir ganz nah an den Ofen gerückt. Wir holten Wasser aus dem Brunnen und machten es auf dem Ofen heiß, damit wir auch die Haare waschen konnten. Wir bereiteten uns an diesem Tag auf das einzige Vergnügen vor, das uns geblieben war: auf den Gottesdienst.
Wenn das Wetter halbwegs gut war, machten wir uns in unseren armseligen Sonntagskleidern jeden Sonntagmorgen vor Tagesanbruch auf den Weg.
Den halben Weg über trug Tom Unsere-Jane. Die restliche Strecke trug ich sie oder half ihr zu gehen. Wenn sie nicht das verlockende Bild von Eistüten vor sich gehabt hätte, dann wäre sie wohl nicht so bereitwillig mitgegangen. Keith hüpfte immer neben der Person her, die gerade das Liebste, was es auf der Welt für ihn gab, auf den Armen trug – seine kleine Schwester. Fanny war immer schon vorausgeeilt. Als letzter trottete Großvater ganz weit hinter uns, der uns mittlerweile mehr aufhielt als Unsere-Jane. Großvater hatte jetzt einen Spazierstock. Oft mußte Tom umkehren und Großvater über einen umgefallenen Baum oder ein Felsstück helfen. Das hätte uns damals noch gefehlt, daß Großvater hingefallen wäre und sich einen Knochen gebrochen hätte.
Großvater brauchte ein bis zwei Stunden, bis er unten im Tal war. Das bedeutete, daß vier Familienmitglieder so lange draußen in der Kälte blieben, um ihm Gesellschaft zu leisten. Die fünfte Person, Fanny, war schon längst im Warmen und hatte sich gemütlich irgendwo in einer dunklen Ecke im Kirchenvorraum verkrochen und genoß verbotene Freuden. Tom stürzte sofort auf sie zu, versetzte dem Jungen, mit dem sie sich gerade vergnügte, einen Hieb, befahl ihr, sich den Rock glattzustreichen, und schließlich und endlich traten wir, wie immer verspätet, in die Kirche, wo wir sofort Gegenstand prüfender und mißbilligender Blicke wurden, die uns wieder einmal deutlich zeigten, wer wir waren: das dreckigste Pack der Berge, der Abschaum des Abschaums, eben die Casteels.
Aber der Weg zu der kleinen weißen Kirche mit ihrem hohen Turm gab uns Hoffnung. Wir waren mit der Fähigkeit geboren zu glauben, zu hoffen und zu vertrauen.
So mühsam auch die Kirchgänge an diesen Sonntagen für uns waren, so bereiteten sie uns nicht nur Vergnügen, sondern sie lieferten uns auch Gesprächsstoff für die langen, einsamen Stunden. In den hinteren Reihen zu sitzen und sich all die gut angezogenen Leute zu betrachten, gab uns das Gefühl, Teil der menschlichen Gemeinschaft zu sein, und das half uns, die Mühsal der Woche zu ertragen. Ich versuchte, Miß Deale, die allerdings nicht regelmäßig in die Kirche kam, aus dem Weg zu gehen. An diesem bestimmten Tag aber war sie anwesend; ihre schönen blauen Augen lächelten erleichtert, als sie uns erblickt hatte. Sie winkte uns heran, neben ihr auf der Bank zu sitzen. Sie ließ mich in ihr Gesangbuch schauen, und ihre wohlklingende Stimme erscholl zu einem Lobgesang auf das Leben. Unsere-Jane hob ihr kleines Gesicht und blickte Miß Deale so hingerissen an, daß mir die Tränen in die Augen traten. »Wie machen Sie das?« flüsterte sie, während Reverend Wise an das Pult trat. »Wir sprechen später über das Singen«, flüsterte Miß Deale und hob Unsere-Jane auf ihren Schoß. Ich beobachtete, wie sie Unsere-Jane immer wieder ansah und ihr mit einer sanften Bewegung über die zarte Wange strich.
Das Schönste am Gottesdienst war, zu stehen und aus dem Gesangbuch zu singen. Das Schlimmste war, zu sitzen und den furchterregenden Predigten über die Sünde zuzuhören. Weihnachten stand vor der Tür, was Reverend Wayland Wise dazu inspirierte, besonders feurige und niederschmetternde Predigten zu halten, nach denen ich schlimme Alpträume hatte und glaubte, ich müsse in der Hölle braten.
»Wer von euch ist kein Sünder? Wer das von sich behaupten kann, der möge hier und jetzt aufstehen. Lasset ihn uns ansehen, erstaunt, erschüttert… und ungläubig! Denn wir sind alle Sünder! Wir werden in Sünde gezeugt! Wir kommen als Sünder zur Welt! Wir leben als Sünder, und wir werden als Sünder sterben!« Die Sünde war überall, sie lag in uns, sie lauerte an jeder Ecke auf uns, in den dunklen Abgründen unserer Seele, niemand konnte ihr entkommen. »Gebet, so wird euch gegeben!« donnerte Reverend Wise und schlug krachend auf die Kanzel, daß sie heftig schwankte. »Gebt, und ihr werdet erlöst aus den Klauen Satans! Gebt den Armen und den Bedürftigen, den Mühseligen und Beladenen… Und aus dem Fluß
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