Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
bohrte.
»Schau«, sagte er und wandte sich zum Fenster. Er zeigte auf einen hellen Streifen am bleigrauen Himmel, »‘s wird heller. Fast kann ich’s sehen, wie die Sonne aufgeht. Gott hat uns nicht vergessen. Er wird Vater nach Hause schicken. Ich spür’s in den Knochen. Sogar Vater würd’ uns nicht hier allein verhungern lassen, das weißt du genauso wie ich.«
Ich wußte überhaupt nichts mehr – ich war am Ende.
9. KAPITEL
V ATERS W EIHNACHTSÜBERRASCHUNG
An einem Sommertag hätten Tom und ich die kurze Strecke zwischen der Hütte und dem Räucherhaus wohl sehr viel schneller zurückgelegt als an jenem Heiligen Abend. Schwer stapfend und aneinandergeklammert kämpften wir uns vorwärts. Der Wind pfiff uns um die Ohren, und der Schnee fiel so dicht, daß wir kaum etwas sehen konnten. Wir stopften unsere Taschen mit einem Dutzend von Großvaters besten Schnitzarbeiten voll und gingen zur Hütte zurück; er würde sie wohl kaum vermissen, da sie schon eine Ewigkeit im Räucherhaus lagerten.
Als wir zurückkamen, hatte der Wind den Schnee hinter unserer Hütte zu beinah haushohen Schneewehen aufgetürmt. Tom stemmte die Türe auf, schob mich hinein und schlüpfte schnell hinterher. Blind stolperte ich ins Zimmer, meine Augen waren vom Schnee noch verklebt. Ganz verdattert sah ich mich um – und erstarrte. Ein freudiger, hoffnungsfroher Schreck durchfuhr mich!
Vater! Er war also doch am Weihnachtstag zurückgekehrt! Endlich waren unsere Gebete erhört worden!
Er stand im trüben Licht des Zimmers, das nur vom Ofen erhellt wurde, und starrte auf Keith und Unsere-Jane, die eng umschlungen schliefen. Obwohl Fanny herumtanzte und ein Freudengeschrei veranstaltete, wachten weder die beiden noch Großvater auf, der in seinem Schaukelstuhl schlief.
Vater schien nichts zu hören, als wir leise ins Zimmer traten und uns so weit wie möglich von ihm entfernt hielten. Etwas an seiner Haltung, in der er auf seine zwei Jüngsten herunterblickte, mahnte mich zur Vorsicht.
»Vater«, rief Tom erfreut, »du bist also doch zurückgekehrt!«
Vater wandte sich um; sein Gesicht war ausdruckslos, so als erkenne er den großen Jungen mit den flammend-roten Haaren nicht. »Ich bring’ euch ‘ne Weihnachtsüberraschung«, sagte er dumpf und völlig ernst.
»Vater, wo warst du?« fragte Tom. Ich blieb im Hintergrund und weigerte mich, ihn zu begrüßen, ebenso wie er es vermied, mich anzusehen oder auch nur meine Anwesenheit wahrzunehmen.
»Geht dich nichts an.«
Das war alles, was er sagte. Dann sackte er neben Großvaters Schaukelstuhl zu Boden. Jetzt erst wachte Großvater auf und brachte ein schwaches Lächeln zustande, als er seinen Sohn sah. Bald darauf schnarchten beide.
Säcke, Beutel und Schachteln voller Nahrungsmittel standen auf dem Tisch. Wir hatten wieder zu essen. Erst abends im Bett fragte ich mich, was Vaters Weihnachtsüberraschung wohl sein könnte, da er sie nicht einmal hereingetragen hatte. Kleidung? Spielsachen? Er hatte uns noch nie Spielzeug mitgebracht, trotzdem hoffte ich immer darauf.
Morgen war Weihnachten.
»Danke dir, lieber Gott«, flüsterte ich dankbar, während ich auf meinen Knien vor meinem Bett betete, »du hast ihn uns in letzter Minute geschickt.«
Am Weihnachtsmorgen – ich kochte gerade die Pilze, die Tom am vorigen Tag in einer Felsspalte im Wald gefunden hatte – stand Vater auf einmal vom Boden auf, ging kurz hinaus und kehrte, unrasiert und erschöpft aussehend, mit großen Schritten zurück. Er zog Unsere-Jane und Keith aus ihrem warmen Bett. Mühelos hielt er beide in seinen starken Armen und sah sie liebevoll an. Mit großen, etwas verängstigten Augen starrten sie ihm ins Gesicht, als wäre er ein Fremder. Sie waren jetzt meine Kinder, nicht seine. Er liebte sie nicht so sehr wie ich, sonst hätte er sie nicht so viele Tage lang allein und ohne ausreichende Nahrung gelassen. Ich mußte mich mit großer Willensanstrengung dazu zwingen, den Mund zu halten, und machte mich daran, weiter Pilze zu kochen.
Als besonderen Leckerbissen würde es heute Eier geben, aber den Speck wollte ich aufheben, bis Vater wieder fort war. Nicht die dünnste Scheibe davon würde ich an ihn vergeuden.
»Mach schnell mit dem Essen, Mädchen«, raunzte Vater mich an. »Wir kriegen Besuch.«
Besuch?
»Wo ist die Weihnachtsüberraschung?« wollte Tom wissen, der gerade wieder eine Stunde lang Holz gehackt hatte.
Vater schlenderte an ein Fenster, ohne zu bemerken,
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