Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
Kissen.
»Sie begreifen Ihren Zustand nicht, Annie«, begann sie. »Sie haben nicht nur körperlichen Schaden genommen, sondern auch seelischen. Solche Sachen können Sie um Monate zurückwerfen.«
Die Tränen und der Schmerz machten mein Herz so schwer, als hätte ich einen Stein in meiner Brust. Plötzlich bekam ich keine Luft mehr. Ich rang nach Atem und setzte mich auf. Ich spürte, wie alles Blut aus meinem Gesicht wich und wie meine Wangen eiskalt wurden. Das Zimmer begann sich zu drehen. Das letzte, was ich hörte, war der Schrei von Mrs. Broadfield. »Annie!«
Dann hüllte mich wieder die Dunkelheit ein.
8. K APITEL
Ä RZTLICHE A NORDNUNGEN
Ich hatte das Gefühl, ich würde in einen tiefen, dunklen Schacht fallen; doch während des Falls sah ich am Ende ein helles Licht, dem ich mich mehr und mehr näherte, und bald hörte ich Stimmen. Zuerst hörte es sich an, als würden viele Leute flüstern; und dieses Geflüster wurde immer lauter und erschien mir eher wie ein Brummen, als würden Hunderte von Fliegen an einem heißen, schwülen Sommertag vor einem Fenster summen. Dann machte ich in dem Summen einzelne Worte aus und erreichte das helle Licht am Ende des Schachts…
Ich blinzelte.
Und tatsächlich war ein heller Lichtstrahl auf mein Gesicht gerichtet.
»Sie kommt wieder zu sich«, sagte irgend jemand, und das Licht wurde zur Seite gedreht.
Ich sah in Dr. Malisoffs besorgte haselnußbraune Augen.
»Ah, da sind Sie ja wieder. Wie geht es Ihnen, Annie?«
Meine Lippen waren so trocken, daß ich das Gefühl hatte, meine Zungenspitze würde an ihnen festkleben. Ich schluckte.
»Was ist geschehen?«
Wieder blinzelte ich und wandte den Kopf zur Seite. Mein Blick fiel auf Mrs. Broadfield, die am Waschbecken stand und mit Dr. Carson, Malisoffs Assistenten sprach. Sie schüttelte den Kopf und gestikulierte beim Sprechen temperamentvoll mit den Händen. Anscheinend beschrieb sie, was geschehen war. Ich hatte sie noch nie so aufgeregt gesehen.
»Nun, Annie, zum Teil ist es meine Schuld. Ich hätte Ihnen erklären sollen, wie geschwächt ihre Psyche ist. Wir haben uns offensichtlich nur um Ihre körperlichen Probleme gekümmert, doch Sie haben auch seelische Verletzungen davongetragen. Die Schäden in diesem Bereich gehen viel tiefer, als man auf den ersten Blick vermuten würde«, erklärte Dr. Malisoff.
Er nahm den kalten Waschlappen von meiner Stirn und reichte ihn Mrs. Broadfield. Dann setzte er sich und nahm meine linke Hand in die seine.
»Erinnern Sie sich, wie Sie mich gefragt haben, ob das alles wäre, was Ihnen fehlt, und wie ich damals gelacht habe?« Ich nickte. »Nun, ich hätte nicht lachen sollen. Ich hätte Ihnen lieber erklären sollen, daß Sie auch emotional und psychisch Schaden genommen haben. Dann hätten wir vielleicht das, was jetzt geschehen ist, verhindern können.«
»Aber was ist denn geschehen? Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, daß ich plötzlich diesen Druck auf meiner Brust spürte…«
»Sie sind ohnmächtig geworden. Emotionale Überforderung. Sie haben einfach nicht gemerkt, wie schwach Sie wirklich sind, Annie. Denn Sie sind hier in einer Umgebung, in der Sie sich behütet und umsorgt fühlen können. Aber die Wahrheit ist, daß Sie nicht nur im physischen, sondern auch im emotionalen Bereich Verletzungen davongetragen haben. Ebenso wie die Haut ihres Körpers abgeschürft und aufgeplatzt ist, ist es auch mit der Schutzschicht über Ihren Gefühlen und Gedanken geschehen. Ich bin sicher, Sie haben den Ausdruck ›er hat ein dickes Fell‹ schon einmal gehört, nicht wahr?« Ich nickte. »Dieser Spruch ist gar nicht so dumm, wie er klingt. Wir schützen unsere Gefühle und unsere Seele auf alle möglichen Arten, und Ihre Schutzschicht ist ernsthaft geschädigt. Daher sind Sie leicht erregbar, verletzlich und allen äußeren Einflüssen schutzlos ausgeliefert. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich denke schon.«
»Gut. Unsere größte Sorge ist jetzt, daß sich Ihr körperlicher Genesungsprozeß verlangsamt oder daß er sogar ernsthaft gestört wird, wenn Sie seelischen Leiden ausgesetzt werden. Diese beiden Bereiche sind eng miteinander verbunden. Ein Mensch kann nicht physisch gesund sein, wenn er psychisch und emotional leidet. In dieser Beziehung war ich ein wenig sorglos. Ich hätte Sie mehr abschirmen sollen, zumindest, bis Sie wieder stärker sind, bis die Schutzschicht über den Emotionen wieder dicker ist. Und genau das müssen
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