Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
sagte ein Wort; wir dachten beide viel zu sehr an die Zeit und die Fahrt. Es herrschte dichter Verkehr auf den Straßen, und die Wagen, die auf die Schnellstraßen einbiegen wollten, stauten sich. Luke fluchte, und entschuldigte sich sofort bei mir. Ich bemühte mich, ihn zu beruhigen. Er tat sein Bestes und fädelte sich laufend von einer Spur in die andere ein.
Als wir auf den Parkplatz fuhren, blieben mir noch weniger als fünf Minuten. Luke konnte keine Parklücke finden. Schließlich hielt er den Wagen einfach an.
»Mir ist es egal, wenn ich einen Strafzettel bekomme«, sagte er. »Komm schnell.«
Er schnappte nach meinem Koffer und half mir beim Aussteigen. Dann rannten wir zum Bahnhof. In der Schalterhalle schienen sich noch mehr Leute aufzuhalten als bei meiner Ankunft. Wir liefen durch den Gang, der zum richtigen Bahnsteig führte, aber als wir mit keuchenden Lungen den Bahnsteig fast erreicht hatten, fuhr mein Zug ab.
»O nein«, rief ich.
Wir standen da und sahen zu, wie der Zug schneller fuhr und schließlich verschwand. Jetzt saß ich in Atlanta fest. Luke drehte sich zu mir um.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte besser auf die Zeit achten müssen.«
»Ich bin selbst schuld.« Ich nahm ihm meinen Koffer ab und sah zum Wartesaal mit seinen harten Bänken.
»Warte.« Er hielt mich am Arm fest. »Ich kann dich nicht die ganze Nacht hier sitzen lassen. Viel kann ich dir nicht bieten, nur eine Matratze auf einem Lager aus Heu, aber…«
»Was?« Ich verstand nicht sofort, was er gesagt hatte. Ich war noch zu benommen.
»Natürlich schlafe ich auf einem anderen Heulager. Du kannst nicht hierbleiben«, flehte er mich an.
Was kann mir noch zustoßen? dachte ich. Ich hatte das Gefühl, einem Blatt zu ähneln, das dem Wind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist und von einer Richtung in die andere gewirbelt wird, ein einsames Blatt, das der Wind weit von der Gegend fortgetrieben hatte, in der es einst gekeimt hatte und gewachsen war.
Luke nahm mir den Koffer wieder ab und ergriff meine Hand. Ich sagte nichts und ließ mich widerstandslos von ihm in die Nacht hinausführen.
20. K APITEL
J EMAND , DER AUF MICH AUFPASST
Ich war immer noch benommen, als ich Luke zu seinem Lastwagen folgte. Er schloß die Tür auf, half mir beim Einsteigen, und dann machten wir uns auf den Rückweg zum Zirkus.
»Mach dir keine Sorgen, Leigh«, tröstete Luke mich. »Ich setze dich morgen früh ganz bestimmt rechtzeitig in den Zug. Vor uns liegt eine Tankstelle, und daneben gibt es ein Münztelefon. Soll ich dort anhalten, damit du deine Großmutter anrufen und ihr sagen kannst, daß du erst einen Tag später kommst?«
Ich schwieg. Ich kam mir vor wie jemand, der auf einem Karussell sitzt und von einer Seite auf die andere gewirbelt wird, ohne je irgendwo anzukommen.
»Leigh? Meinst du nicht, du solltest sie anrufen, damit sie sich keine Sorgen macht, wenn du nicht im Zug sitzt?«
»O Luke«, sagte ich und konnte den Tränenstrom nicht länger zurückhalten. »Meine Großmutter weiß nicht, daß ich komme. Ich bin von zu Hause fortgelaufen!«
»Was?« Er fuhr langsamer. »Du bist fortgelaufen?« Er bog in eine Seitenstraße ein und hielt den Wagen an.
»Deshalb hattest du also nicht genug Geld für die Reise dabei. Aber warum bist du ausgerissen, Leigh? Mir kam es so vor, als hättest du in New England in Saus und Braus gelebt.«
Ich weinte noch heftiger. Er rückte auf dem Sitz näher zu mir und nahm mich zärtlich in die Arme.
»He, ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Wenn ein so netter Mensch wie du fortlaufen wollte, muß es gute Gründe gegeben haben.«
Ich schluchzte. Ich konnte mich einfach nicht mehr zusammennehmen und zitterte in Lukes Armen. Mir wurde kalt, und meine Zähne klapperten. Luke schlang seine Arme fester um mich und rieb mit seiner Handfläche meinen Arm, um mich zu wärmen.
»Ganz ruhig«, sagte er und küßte mich zart auf die Stirn, und dann legten sich seine Lippen auf meine Wangen, um die Tränen fortzuküssen. Ich schnappte nach Luft und schluckte. »Ich bin selbst hundertmal ausgerissen. Verflixt, in einem gewissen Sinne reiße ich im Moment auch wieder aus, aber irgendwie schaffe ich es immer wieder, den Weg nach Hause zu finden. Du wirst es auch schaffen.«
»Ich will nicht zurück, nie mehr«, schluchzte ich.
Er nickte. »Junge, du mußt schlimme Sachen erlebt haben.«
»Es war schlimm«, sagte ich. Ich holte tief Atem, lehnte mich zurück und
Weitere Kostenlose Bücher