Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
auf das Schiff zurückkehren, da es der letzte Abend in Jamaika war und eine Show und ein Ball geplant waren. Ich sagte Daddy, ich müsse mich ein Weilchen zurückziehen und würde mich ihm dann später wieder anschließen.
»Genau wie deine Mutter! Du willst dir wohl die Nase pudern, stimmt’s, Prinzessin?« fragte er. Er zwinkerte dem Kapitän zu.
»Ja, Daddy«, sagte ich und senkte die Lider. Ich spürte zwei kleine Tränen in den Augenwinkeln.
»Ist alles in Ordnung mit dir? Das Essen war dir doch nicht zu scharf, oder? Du bist doch nicht etwa übermüdet?« fragte er, und seine Stimme drückte väterliche Sorge aus.
»Nein, Daddy.« Ich mußte mir auf die Unterlippe beißen, um nicht zu weinen oder zu schreien. Warum redete er bloß so mit mir, als sei ich wieder ein kleines Mädchen? Warum merkte er nicht, was mir wirklich fehlte?
Als ich meine Suite betrat, fühlte ich mich so allein und im Stich gelassen, daß ich nichts anderes mehr tun konnte, als mich auf das Bett zu setzen und zu weinen. Mein Blick fiel auf mein Spiegelbild. Ich fand, daß ich einen jämmerlichen und lachhaften Anblick bot. Ich sah aus wie ein kleines Mädchen, das versuchte, seine Mutter zu imitieren.
Nie hatte ich so sehr das Gefühl gehabt, Mama zu brauchen.
Wie schrecklich es für echte Waisenkinder sein mußte, dachte ich, nie jemanden zu haben, dem man sich anvertrauen kann und der einen liebt und einen nicht auslacht, wenn man ihm seine tiefsten und innigsten Gefühle beschreibt. Heute nacht kam ich mir wie eine Waise vor, die auf dem Meer ausgesetzt worden war und ziellos dahintrieb.
Ich wischte mir das tränenverschmierte Gesicht ab und sah mich im Spiegel an. Vielleicht würden Daddy und ich unser privates Gespräch in den allernächsten Tagen führen, auf der Heimfahrt. Vielleicht fiel es ihm schwer, über diese Dinge zu reden, und er suchte bewußt nach Mitteln, einem Gespräch aus dem Weg zu gehen. Auf ihm lastete ohnehin schon so viel Verantwortung und Kummer, und ich fehlte ihm gerade noch als zusätzliche Belastung. Ich mußte mehr Verständnis für ihn aufbringen. Ich richtete mich auf.
»Niemand macht sich etwas aus Menschen, die armselig und schwach sind«, hatte Mama einmal zu mir gesagt. »Mitleid ist das erniedrigendste aller Gefühle. Selbst, wenn du außer dir bist, laß niemanden in den Genuß kommen, es zu merken. Das gibt anderen das Gefühl, dir überlegen zu sein.«
»Wird gemacht, Mama«, flüsterte ich, als stünde sie neben mir. »Ich werde tun, was ich tun muß. Niemand wird mein Geheimnis aufdecken, meine tiefe Traurigkeit. Ich tue es für Daddy, und ich tue es für dich, aber ich tue es auch für mich selbst.«
Ich stand entschlossen auf.
Die Heimreise erschien mir viel länger als die Hinfahrt, weil ich es kaum abwarten konnte, Mama zu sehen und zu beobachten, wie Mama Daddy begrüßte. Jeden Abend kniete ich mich hin und betete, sie möge nicht mehr so böse auf ihn sein. Ich las viel und ließ mich von meinem Privatlehrer, Mr. Abrams, unterrichten. Ich spielte Schach mit Raymond und Fulton und ging mit ihnen ins Kino und zu Veranstaltungen. Einen Teil meiner Zeit verbrächte ich mit den Spenser-Schwestern. Daddy schien mehr denn je zu tun zu haben. In den letzten Tagen auf See bekam ich ihn kaum noch zu sehen. Er aß nicht mit mir zu Mittag, und wenn wir uns endlich zu einem gemeinsamen Abendessen hinsetzten, lenkten ihn so viele Menschen ab: Gäste sagten ihm, wie sehr sie die Kreuzfahrt genossen hatten, und Besatzungsmitglieder stellten ihm Fragen.
Am Abend vor unserer Ankunft im Hafen von Boston suchten mich Raymond und Fulton einzeln auf, um mir ihre Adressen zu geben und sich meine aufzuschreiben. Beide versprachen, zu schreiben und mich sogar bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu besuchen. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt. Raymond gab mir einen Kuß auf die Wange, ganz schnell, und als er zurückwich, hatte er einen roten Kopf. Es war das erste Mal, daß mich ein Junge geküßt hatte, der schon in die High School ging, und mein Herz pochte aufgeregt. Fulton schüttelte mir nur die Hand, aber dabei hatte er die Schultern durchgedrückt und seinen Blick so starr auf mich gerichtet, als wolle er sich meine Gesichtszüge so gut einprägen, daß er sie nie mehr vergaß.
Nachdem sie gegangen waren, machte ich mich ans Packen. Daddy sagte mir, ich solle meine Taschen einfach neben die Tür stellen, und die Träger kämen dann, um sie abzuholen, während ich beim Frühstück
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