Catch 22
Brief, in dem er sie drängte, seine üble Lage dem Kriegsministerium vorzustellen und sich gleichzeitig mit seinem Geschwaderkommandeur, Colonel Cathcart, in Verbindung zu setzen, der bestätigen solle, daß — ganz gleich, was sie gehört haben mochte — es wirklich er sei, ihr Ehemann, Doc Daneeka, der sie anflehe, und nicht ein Leichnam oder ein Betrüger. Mrs. Daneeka war von der Stärke des Gefühls, das aus diesem fast unleserlichen Anruf sprach, wie vor den Kopf geschlagen. Sie wurde förmlich von Mitgefühl zerrissen und war stark in Versuchung, der Bitte Folge zu leisten, doch schon der nächste Brief, den sie an jenem Tage öffnete, kam von eben jenem Colonel Cathcart, dem Geschwaderkommandeur ihres Mannes, und er begann: Geehrte Frau, Herr, Fräulein, oder Herr und Frau Daneeka: Worte können nicht den tiefen persönlichen Schmerz ausdrücken, den ich empfand, als Ihr Gatte, Sohn, Vater oder Bruder gefallen, verwundet oder vermißt gemeldet wurde.
Mrs. Daneeka verzog mit ihren Kindern in die Stadt Lansing im Staate Michigan und teilte niemandem ihre neue Adresse mit.
Yo-Yo's Bettgeher
Als es kalt zu werden begann und walfischförmige Wolken in fast endloser Prozession niedrig am trüben, schiefergrauen Himmel dahertrieben wie die brummenden, dunklen, stählernen Pulks der B-17 und B-24, die vor zwei Monaten zur Invasion Südfrankreichs von ihren italienischen Feldflugplätzen gestartet waren, war es Yossarián wohlig warm. Es war keiner in der Staffel, der nicht wußte, daß Kid Sampsons spirrlige Beine unterdessen an den Strand gespült worden waren und jetzt im feuchten Sand verfaulten. Und keiner war bereit, sie zu bergen, GUS nicht und Wes nicht und auch nicht die Leichenträger vom Lazarett. Jeder tat, als wären Kid Sampsons Beine nicht vorhanden, als habe die Strömung den in seine Einzelteile zerlegten Kid Sampson ebenso nach Süden entführt wie die kompletten Clevinger und Orr. Seit es kalt geworden war, kam es auch kaum vor, daß sich jemand im Gebüsch herumdrückte und wie ein Pervertierter heimlich die verfaulten Beinstümpfe anstarrte.
Mit den schönen Tagen war es aus, und aus war es auch mit den risikolosen Feindflügen. Statt dessen stach der Regen die Haut wie mit Nadeln, ertrank man im trübeziehenden kalten Nebel, und die Besatzungen flogen in wochenlangen Abständen, immer nur, wenn es aufklarte. Nachts stöhnte der Wind. Die knorrigen, verkümmerten Bäume ächzten und knarrten und lenkten Yossariáns Gedanken allmorgendlich, noch ehe er überhaupt richtig erwacht war, auf Kid Sampsons gedunsene Beine, die in eisigem Regen auf feuchtem Sand langsam, doch mit der Regelmäßigkeit eines tickenden Uhrwerks die blinde, kalte, winddurchtoste Oktobernacht hindurch vor sich hin faulten. Hatte er genugsam an Kid Sampsons Beine gedacht, dann ging er zu dem bejammernswerten Snowden über, der winselnd im Heck des Bombers zu Tode fror und das Geheimnis verstockt so lange in seinem Flak-Anzug verborgen hielt, wie Yossarián mit dem Sterilisieren und Verbinden der belanglosen Beinwunde beschäftigt war, ehe er es großzügig um sich herum auf den Fußboden verstreute. Den Nachtschlaf versuchte Yossarián dadurch anzulocken, daß er sämtliche Männer, Frauen und Kinder seiner Bekanntschaft Revue passieren ließ, die seither verstorben waren. Desgleichen beschwor er alle ihm bekannten Soldaten vor sich herauf und erweckte sogar alle jene Personen wieder zum Leben, die er als Kind mal gesehen hatte — sämtliche Onkels, Tanten, Nachbarn, Eltern und Großeltern, eigene sowohl als fremde, dazu jene rührenden, enttäuschten Kleinhändler, die bereits mit Sonnenaufgang ihre winzigen, staubigen Ladengeschäfte öffneten, in denen sie wie die Narren bis Mitternacht schufteten. Auch diese waren alle schon tot. Die Zahl der Toten schien ständig zuzunehmen.
Und die Deutschen kämpften immer noch. Yossarián beschlich der Verdacht, daß der Tod unvermeidlich sei und daß er nicht mehr mit dem Leben davonkommen werde.
Dank Orrs herrlichem Ofen war es Yossarián bei Anbruch der kalten Jahreszeit wohlig warm, und er hätte denn auch ganz behaglich in seinem geheizten Zelt dahinleben können, wäre nicht die Erinnerung an Orr gewesen und die Bande lustiger Mitbewohner, die sich eines Tags gierig auf sein Zelt gestürzt hatten.
Sie gehörten zu den beiden kompletten Besatzungen, die Colonel Cathcart als Ersatz für Kid Sampson und McWatt angefordert und innerhalb von 48 Stunden erhalten hatte.
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