Catch 22
überzeugt hatte, daß es nutzlos war, ihn zur Vernunft bringen zu wollen, gab er ihm den Weg frei. Sogleich war Milo verschwunden. Der Präsident knöpfte die Jacke wieder auf und blickte Yossarián verächtlich an. »Wünschen Sie vielleicht verhaftet zu werden?«
Yossarián verließ das Büro und ging die Treppen hinunter. Ehe er die dunkle, gruftähnliche Straße betrat, traf er auf das feiste Weib mit den Warzen und dem Doppelkinn, das bereits wieder auf dem Weg zum Präsidenten war. Von Milo keine Spur. Nirgends war ein Fenster erleuchtet. Der verlassene Bürgersteig stieg etliche Häuserblocks weit steil an. Am Ende der langen, gepflasterten Steigung sah er die grellen Lichter eines Boulevards.
Das Polizeipräsidium befand sich fast auf dem Grunde; die gelben Glühbirnen über dem Eingang zischten in der Feuchtigkeit wie nasse Fackeln. Ein erkältender Sprühregen ging nieder.
Yossarián setzte sich bedächtig bergauf in Bewegung. Bald gelangte er an ein stilles, trauliches, einladendes Restaurant, dessen Fenster mit roten Samtportieren verhängt waren und über dessen Tür eine blaue Leuchtschrift verkündete: Toni‘s Restaurant. Gute Küche. Erstklassige Getränke. Draußenbleiben. Die blaue Leuchtschrift überraschte ihn nur wenig und nicht für lange. Jedwede Bösartigkeit schien ihm zu seiner fremdartigen, entstellten Umgebung zu passen. Die Dächer der steil aufragenden Häuser winkelten sich in einer gespenstischen, surrealistischen Perspektive, und die Straße schien auf der Kippe zu stehen. Er schlug den Kragen seines warmen wollenen Mantels hoch und schmiegte sein Gesicht hinein. Die Nacht war rauh. Aus der Dunkelheit kam barfüßig ein Junge hervor, der ein dünnes Hemd und fadenscheinige, abgewetzte Hosen trug. Der Junge hatte schwarze Locken, er benötigte dringend einen Haarschnitt, Schuhe und Strümpfe. Das kränkliche Gesicht war blaß und traurig. Während er vorüberging, machten die Füße gräßliche, weiche, saugende Geräusche in den Pfützen auf dem nassen Pflaster, und Yossarián wurde so von Mitleid mit dieser Armut übermannt, daß er das bleiche, traurige, kränkliche Gesicht gerne zu Brei geschlagen und es damit aus der Welt geschafft hätte, denn dieser Junge rief ihm die bleichen, traurigen, kränklichen Gesichter all der Kinder Italiens ins Gedächtnis, die ebenfalls einen Haarschnitt, Schuhe und Strümpfe benötigten. Er ließ Yossarián an Krüppel, an frierende und hungernde Männer und Frauen denken, an all die stummen, ergebenen, frommen Mütter mit katatonischen Augen, die kalte, tierische Euter bloßlegten und, unempfindlich gegen den eisigen Sprühregen, ihre Säuglinge im Freien nährten. Fast wie aufs Stichwort patschte eine nährende Mutter vorbei, die einen in schwarze Lumpen gewickelten Säugling trug, und Yossarián hätte auch sie liebend gerne zusammengeschlagen, denn sie erinnerte ihn an den barfüßigen Jungen in dem dünnen Hemd und den fadenscheinigen, abgewetzten Hosen, und an all das vor Kälte zitternde, bestürzende Elend einer Welt, der es noch nie gelungen war, mehr als einer Handvoll geriebener skrupelloser Individuen genügend Wärme, Nahrung und Gerechtigkeit zu schaffen. Was für eine jämmerliche Welt! Er fragte sich, wie viele Menschen in dieser Nacht wohl in seinem eigenen, reichen Land mittellos sein mochten, wie viele traute Heime nichts weiter waren als Schuppen, wie viele Ehemänner betrunken sein, wie viele Frauen geprügelt, wie viele Kinder angebrüllt, mißbraucht oder ausgesetzt werden mochten.
Wie viele Familien hungerten nach Nahrung, die sie nicht bezahlen konnten? Wie viele Herzen wurden gebrochen? Wie viele Selbstmorde mochten in dieser Nacht stattfinden, wie viele Menschen wahnsinnig werden? Wie viele Wanzen und Vermieter würden triumphieren? Wie viele Gewinner waren Verlierer, wie viele Erfolgsmenschen Nieten, wie viele Reiche waren Arme?
Wie viele Schlaumeier waren Blödiane? Wie oft war Ende gut Ende schlecht? Wie viele ehrliche Männer waren Lügner, wie viele Tapfere Feiglinge, wie viele treue Männer Verräter und heiligmäßige Menschen verderbt, wie viele Menschen in Vertrauensstellungen mochten ihre Seele für Geld verkauft haben, und wie viele von ihnen hatten überhaupt je eine Seele besessen? Wie viele gerade Wege waren in Wahrheit krumme Wege? Wie viele gute Familien waren schlechte Familien, und wie viele anständige Leute waren üble Subjekte? Wenn man alles zusammenzählte und dann subtrahierte, blieben am
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