Cathérine de Montsalvy
führte zunächst zu einer langen, bewaldeten Insel, auf der ein schwaches Licht glänzte. Bei Tag hatte die junge Frau die kleine Kapelle Saint-Jean und die sich ihr anschließende Einsiedelei bemerken können. Das mußte die Kapelle des Eremiten sein. Nachdem sie die Insel überquert hatten, stießen sie auf eine weitere Brücke, die nun direkt zum Schloß führte, und diesmal konnte Cathérine auf dem Felsen den Widerschein der Feuer im Wallgraben sehen: Dis Zigeunerlager war noch in voller Tätigkeit.
Auf den Türmen und Rundgängen huschte hin und wieder eine Fackel, die von einem Wachsoldaten auf seinem Streifengang getragen wurde, wie eine Sternschnuppe vorüber, und je mehr man sich näherte, desto deutlicher konnte man die Rufe der Wächter hören, die sich von Turm zu Turm antworteten. Von der kleinen Stadt Amboise, die im Schatten des Außenwerks in ihren Wällen eingeschlossen lag, konnte Cathérine nur die sich nach Süden erstreckenden Ausläufer erkennen. Der Himmel über ihnen war wolkenbedeckt, und seine Fahlheit kündigte den aufgehenden Mond an.
Am Rande des Wallgrabens hielten die drei Reiter an, und Cathérine riß die Augen auf. Einen Augenblick glaubte sie, sich am Eingang zur Hölle zu befinden. Ein Feuer loderte inmitten des Lagers, und um dieses Feuer saß der ganze Stamm auf der Erde, seltsam unbeweglich, aber allen geschlossenen Lippen entrang sich eine Art Klagelied, monoton und düster, auf das ab und zu das dumpfe Geräusch der Eselhauttrommeln unter den hageren Fingern der Männer antwortete.
Die rotgoldenen Flammen tanzten auf ihrer kupferroten Haut, die bei einigen Tätowierungen trug. Die Frauen, in der Mehrzahl in Lumpen gekleidet, hatten dichtes, fettglänzendes Haar, fleischige Lippen, schmale Hakennasen, schwarzgekohlte Augen, selbst die Alten, deren Haut ausgemergelter war als altes Pergament. Einige trugen unförmige Turbane, barbarischen Schmuck … einige waren schön, wie die rauhen, lose sitzenden Hemden, die sie trugen, freizügig zeigten. Die Männer waren schrecklich: zerlumpt, schmutzig, mit wolligem Kraushaar und langen Bärten, unter denen sehr weiße Zähne blitzten. Ihre Köpfe waren mit Lumpen oder verbeulten Helmen bedeckt, die sie zufällig am Wege aufgelesen oder herumliegenden Leichen abgenommen hatten. Alle trugen große Silberringe in den Ohren. Mit unbeweglichen Gesichtern, die Augen gefährlich funkelnd auf das lodernde Feuer gerichtet, die nie endende Totenklage murmelnd – all dies ließ Cathérine erschauern. Sie suchte Saras Blick, und als sie sprechen wollte, legte die Zigeunerin schnell den Finger auf den Mund.
»Nicht sprechen«, flüsterte sie so leise, daß die junge Frau sie kaum hören konnte, »nicht jetzt! Rühr dich nicht!«
»Warum?« fragte Tristan ebenso leise.
»Es ist ein Trauerritus. Sie warten zweifellos auf die Leiche des Mannes, der heute morgen gehängt worden ist.«
Tatsächlich bewegte sich vom Schloß herunter eine kleine Prozession dem Lager zu. Ein großer, magerer Mann ging mit einer Fackel an der Spitze, um seinen vier Gefährten voranzuleuchten, die auf den Schultern einen leblosen Körper trugen. Der Mann, auf den das Licht fiel, war in enganliegende scharlachfarbene Hosen und ein schmutziges, zerlumptes Wams gekleidet, das aber immer noch Spuren von Goldstickerei aufwies. Die gerissenen Schlingen des Wamses öffneten sich weit und ließen eine braune Brust bis zur Taille sehen, deren ausgeprägte Muskulatur ungewöhnliche Kraft verriet. Der Mann war jung und seine Miene arrogant. Was den langen und dünnen schwarzen Schnurrbart betraf, der seine starken roten Lippen rahmte, unterstrich er noch ihren grausamen Ausdruck, während die dunklen Augen sich schräg zu den Schläfen zogen, damit die asiatische Herkunft bekundend. Das dichte Haar, unter dem man die silbernen Ohrringe blitzen sehen konnte, fiel ihm bis auf die Schultern.
»Das ist Fero, der Anführer!« flüsterte Tristan l'Hermite.
Der Sprechgesang der Trauerversammlung verstummte, als die Träger die Leiche vor dem Feuer absetzten. Die Zigeuner hatten sich erhoben, und einige Frauen hockten sich auf Knien um den Toten herum. Eine von ihnen, so alt und so runzlig, daß ihre Haut auf ihre Knochen geklebt schien, begann mit entsetzlich verbrauchter Stimme eine Art Klagelied zu singen, dessen Melodie dauernd abbrach. Eine andere, junge und kräftige Frau nahm die Melodie wieder auf, wenn die Alte verstummte.
»Mutter und Frau des Toten«, flüsterte Sara.
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