Cato 04 - Die Brüder des Adlers
Caratacus aber wirklich unterwegs war, sollte Tincommius dann nicht eigentlich lügen und darauf hoffen, dass sein Verbündeter die sechs Kohorten in Calleva erwischte und niedermachte? Für General Plautius’ Feldzug wäre das ein vernichtender Schlag. Vespasian gelangte zu dem Schluss, dass er weitere Informationen benötigte, um eine Entscheidung fällen zu können.
Zurück im Vorratsraum löste er die Riemen des Brustharnischs und ließ die Schultern kreisen. Dann schickte er nach dem Dekurio, der die kleine Schwadron der Kundschafter befehligte, und befahl dem Mann, seine Reiter zu versammeln. Sie sollten die Befestigung sofort verlassen und den Norden und Westen nach Anzeichen feindlicher Annäherung auskundschaften. Nachdem er diesen Befehl erteilt hatte, legte Vespasian sich beruhigt auf ein Lager aus Pelzen und schlief sofort ein.
Cato fuhr aus dem Schlaf hoch. Er rappelte sich mühsam auf, die Augen verquollen und die Gedanken schlafvernebelt. Der junge Zenturio blickte sich benommen um und sah, dass die königliche Umfriedung noch immer im Dunkeln lag, während am östlichen Horizont der schwache Schimmer eines trügerischen Morgengrauens sichtbar wurde. Rundum gewahrte er die verschwommenen Silhouetten römischer Offiziere, die die Reihen der schlafenden Soldaten entlangschritten und die Männer wachrüttelten. Macro trat zu ihm.
»Was ist los?«, fragte Cato.
»Steh auf. Wir brechen auf.«
»Aufbrechen?«
»Raus aus Calleva und zurück zur Legion.«
»Warum?«
»Befehl des Legaten. Weck deine Männer. Los!«
Cato reckte die steifen Glieder und kam stöhnend auf die Beine. Die Umfriedung war erfüllt vom Gegrummel der Geweckten und den barschen Rufen der Zenturionen. Vor dem Vorratsraum, den der Legat und sein kleiner Stab als Quartier benutzten, brannten Fackeln. Cato erblickte Vespasian, der den Kohortenkommandanten im Schein der flackernden Flammen eilig ihre Befehle erteilte.
Cato bückte sich nach seinem Schienenpanzer, zwängte sich hinein und schnürte die Lederriemen zu. Einige Männer der Wolfskohorte waren bereits wach und blickten sich nervös um.
»Zenturio!« Mandrax trat auf ihn zu und Cato fiel auf, dass er den Mann zum ersten Mal seit Tagen ohne die Standarte in der Hand sah. »Herr, was ist los?«
»Wir brechen auf.«
»Aufbrechen?« Mandrax sah ihn überrascht an und runzelte dann die Stirn. »Warum denn, Herr? Wir haben gesiegt. Der Feind ist weg. Warum sollten wir Calleva jetzt verlassen?«
»Befehle. Und jetzt hilf mir, unsere Leute aufzustellen.«
Einen Moment lang stand Mandrax still da und betrachtete seinen Zenturio mit einer Miene, die Cato als Misstrauen deutete. Dann nickte er langsam und wandte sich seinen Pflichten zu. Der Befehl bereitete Cato ein schlechtes Gewissen. Diese Männer, mit denen er Seite an Seite gekämpft hatte, betrachteten sich als Verbündete Roms, und der Befehl, Calleva zu verlassen, musste, selbst wenn er vernünftig war, für sie den Beigeschmack des Verrats haben. Vespasian hatte seine Meinung anscheinend geändert. Oder schlimmer noch, es hatte sich schließlich doch herausgestellt, dass Tincommius die Wahrheit sagte. Cato befestigte seinen Schwertgurt, klemmte sich den Helm unter den Arm und trat zu seinen in zwei Blöcken aufgestellten Männern.
Die Wolfskohorte existierte nur noch dem Namen nach: Cato zählte dreißig Mann, die hinter Mandrax und der Standarte im Dunkeln standen. Viele trugen Verbände, doch alle hatten auch noch immer Schild, Wurfspeer und Bronzehelm. Cato schritt die Reihe prüfend ab und spürte dabei eine plötzliche Woge von Stolz. Diese Männer hatten sich den Legionären an Mut und Standfestigkeit als ebenbürtig erwiesen, und wenn sie weitertrainierten, würden sie ihren römischen Kameraden auch an Waffentüchtigkeit in nichts nachstehen. Das Band, das ihn nach der Zeit der Ausbildung und all den Kämpfen mit ihnen verband, war mindestens so fest wie die Gemeinsamkeit mit seinen Kameraden in der Zweiten Legion.
Nun aber erhielten die Männer den Befehl, Calleva und ihre Familien zu verlassen, und der Zenturio fragte sich besorgt, wie sie reagieren würden, wenn sie sich beim Abmarsch umblickten und ihre Stadt schutzlos daliegen sahen, eine reife Frucht, die nur darauf wartete, von Caratacus und seinen Verbündeten geerntet zu werden. Das würde die wahre Probe ihrer Loyalität gegenüber ihm und der Standarte darstellen.
»Alle Offiziere zum Legaten!«, brüllte jemand durch die Umfriedung. »Alle
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