Cato 09 - Gladiator
verloren.«
»Seine Überlebensaussichten sind gering. Das hast du selbst gesagt.«
Cato hielt noch immer die Hand des Jungen. Er biss sich auf die Lippen. »Nein. Ich kann ihn nicht im Stich lassen, Herr. Das wäre nicht rechtens.«
Sempronius atmete tief durch. »Centurio Cato, hier geht es nicht um Richtig oder Falsch. Ich erteile dir einen Befehl.«
Schweigend maßen die beiden Männer einander mit Blicken. Als der Junge leise stöhnte, senkte Cato den Blick und streichelte ihm mit der Linken über das flaumige Haar. »Ganz ruhig, mein Kleiner. Ruhig.«
»Cato«, sagte Sempronius eindringlich, »wir müssen weiter. Wir müssen Gortyna so schnell wie möglich erreichen. Wir müssen alles tun, um die Ordnung wiederherzustellen, um den Menschen zu helfen und Leben zu retten. Für diesen Jungen können wir nicht viel tun. Wenn wir ihn nach Matala zurückbrächten, werden stattdessen andere Menschen sterben.«
»Das mag sein«, entgegnete Cato. »Aber wenn wir den Jungen sich selbst überlassen, wird er mit Sicherheit sterben, frierend und allein.«
»Das wäre möglich. Vielleicht wird er aber auch von jemand anderem gerettet.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Bist du dir sicher, dass in Gortyna keine Menschenleben gefährdet werden, wenn wir zurückreiten?«, entgegnete Sempronius.
Cato runzelte die Stirn. Einerseits konnte er sich der Wahrheit von Sempronius’ Worten nicht entziehen, andererseits fühlte er sich moralisch verpflichtet, alles zu tun, um dem Jungen zu helfen. Er versuchte einen anderen Ansatz. »Und wenn Julia hier läge? Würdest du dann ebenfalls weiterreiten wollen?«
»Zum Glück ist das nicht Julia. Komm, Cato, mein Junge, sei vernünftig. Du bist Offizier, du trägst Verantwortung gegenüber dem Imperium. Ich bin sicher, dass du auf den Feldzügen, an denen du teilgenommen hast, auch Schwerverwundete zurückgelassen hast. Der Junge ist ein Erdbebenopfer, dem du nicht helfen kannst. Vermutlich würde er unerträgliche Schmerzen leiden, wenn du ihn auch nur bewegst. Willst du ihn wirklich dem quälenden Ritt nach Matala aussetzen? Nur damit er dort stirbt? Es ist besser für ihn, wenn du ihn hierlässt.« Sempronius legte Cato die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Glaub mir … Und jetzt müssen wir weiter. Komm.«
Verbittert rang Cato mit sich. Ungeachtet der Stimme seines Herzens trug er Verantwortung gegenüber vielen anderen Menschen. Mühsam riss er den Blick von dem Jungen los und zog seine Hand behutsam zurück. Der Junge tastete nach seiner Hand und ergriff sie wieder, blankes Entsetzen im Blick. Cato richtete sich eilig auf und machte seine Hand los.
»Komm.« Sempronius zog ihn mit sich zu den festgebundenen Pferden. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Als Cato sich abwandte und dem Senator folgte, zerriss ein durchdringender Angst- und Schmerzensschrei die Dunkelheit und durchbohrte sein Herz wie ein Speer. Beinahe hätte er sich übergeben, denn er kam sich vor wie ein kaltes, unbarmherziges Ungeheuer, das keinerlei Anspruch mehr darauf hatte, als Mensch betrachtet zu werden.
»Wir müssen weiter«, sagte Sempronius mit erhobener Stimme, fasste Cato beim Arm und zog ihn von den lauter werdenden Schreien des kleinen Jungen fort. »Steig aufs Pferd, dann reiten wir los. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Du wirst anderswo gebraucht.«
Er zog Cato zu seinem Pferd und half ihm, sich auf dessen Rücken zu schwingen. Dann band er eilig das Pferd los, warf Cato die Zügel zu und klatschte dem Tier auf die Flanke, so dass es mit einem schrillen Wiehern davongaloppierte. Auch Sempronius saß auf und gab seinem Pferd die Sporen. Als er zu dem Centurio aufschloss, bemerkte er Catos verkniffene Miene. Das Herz wurde ihm schwer. Es war hart, aber notwendig gewesen, das verletzte Kind sich selbst zu überlassen, doch Cato litt anscheinend stärker unter der Entscheidung als er selbst. Der junge Mann hatte eben ein mitfühlendes Herz. Er hatte tiefe Gefühle und scheute sich nicht, sie zu zeigen. Als Sempronius die Führung übernahm, entdeckte er in dem Ganzen auch ein Fünkchen Trost. Seine Tochter hatte anscheinend den richtigen Mann ausgewählt.
Während die Nacht über Kreta hereinbrach, ritten sie weiter die Hauptstraße entlang, die durch die wohlhabende Ackerbaugegend nach Gortyna führte. Die Straße war gesäumt von Olivenbäumen, Obstplantagen und Weingärten, die sich bis zu den fernen Hügeln erstreckten. Der größte Teil des Landes war in
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