Caylebs Plan - 6
beginne ich allmählich zu begreifen, dass Erayk Dynnys doch mehr gewesen ist, als mir seinerzeit bewusst war. Vielleicht wären wir, hätten wir ihn besser gekannt, angesichts der letzten Entscheidung, die er für sein Leben getroffen hat, weniger überrascht gewesen.«
»Mag sein, Euer Eminenz. Ich möchte wirklich gern glauben dürfen, dass Ihr Recht habt, und vielleicht tue ich das sogar. Aber im Augenblick ist nur von Bedeutung, dass Ahnzhelyk - Nynian - mir das hier geschickt hat.«
Sie schob Ahrdyn beiseite und griff in die Handtasche, die sie dabei hatte. Ahrdyn jedenfalls missfiel ganz offenkundig diese unangemessene Unterbrechung der einzig richtigen Beziehung, die zwischen menschlichen Fingern und dem Fell einer Katzenechse denkbar war. Er warf Madame Dynnys einen empörten Blick zu, sprang von ihrem Schoß und verzog sich in sein Körbchen. Adorai schenkte ihm keinerlei Beachtung, als sie einen dicken Briefumschlag aus der Tasche hervorholte und ihn sich auf den Schoß legte - genau dorthin, wo zuvor die nun indignierte Katzenechse gesessen hatte. Lange betrachtete die Witwe das Schriftstück nur.
»Euer Eminenz, dies ist eine Abschrift der jährlichen Ansprache des Großvikars«, sagte sie und blickte auf. »Eine Abschrift der tatsächlich gehaltenen Rede, nicht die ... bereinigte Version, die offiziell in Umlauf gebracht wurde.«
Staynair erstarrte, richtete sich dann in seinem Sessel auf, und Adorai Dynnys nickte.
»Mir ist bewusst, dass schon die offizielle Version der Ansprache in den Anschuldigungen und Andeutungen, die gegen Charis vorgebracht wurden, schlimm genug war, Euer Eminenz. Aber es hat sich herausgestellt, dass die tatsächlich gehaltene Ansprache noch deutlich schlimmer war. Ich vermute, der Grund dafür, die Rede vor der Veröffentlichung noch zu überarbeiten, ist in der ausdrücklich an das Vikariat ergangenen Warnung zu sehen, die ›Vierer-Gruppe‹ - oh, ich bitte um Verzeihung, ich meine natürlich der Großvikar - sei zu dem Schluss gekommen, ein Heiliger Krieg sei unausweichlich.«
Staynair atmete tief durch - weniger vor Überraschung als vielmehr, weil er seine Befürchtung bestätigt sah.
»Ich war durchaus versucht, den begleitenden Brief zu verbrennen und Euch - und natürlich Kaiserin Sharleyan - lediglich die Abschrift auszuhändigen, ohne Euch zu sagen, woher sie stammt und wie genau sie in meinen Besitz gelangen konnte«, fuhr Adorai fort.
»Um Nynians Identität zu schützen?«
»Nein, Euer Eminenz. Um zu verhindern, dass Ihr jemals erfahrt, was sonst noch zu tun sie sich erboten hat.«
Staynair neigte nur den Kopf zur Seite und hob fragend eine Augenbraue. Dann wartete er, und schließlich seufzte Adorai.
»Euer Eminenz, im Prinzip hat sie angeboten, Euer Spion in Zion zu werden. Und sie hat angeboten, Euch den Inhalt ihrer eigenen Aufzeichnungen zukommen zu lassen. Tatsächlich hat sie diese sogar diesem Brief beigefügt.«
»Ihre Aufzeichnungen?«
»Säuberlich angefertigte Aufzeichnungen über den Amtsmissbrauch der Kirche, über Korruption in den Reihen des Vikariats, den Verkauf schriftlicher Zeugenaussagen, Verkauf von Verdammungen gemäß den Achtungen, An- und Verkauf von Rechtsentscheidungen, wie beispielsweise hinsichtlich des Anspruchs, den Tahdayo Mahntayl auf Hanth erhoben hat ... all das, aus einem Zeitraum von beinahe zwanzig Jahren. Sie füllen mehrere Kisten, Euer Eminenz. Es ist erstaunlich, über welche Dinge einflussreiche Männer sprechen, wenn sie unter sich sind - oder was sie an Bemerkungen in Gegenwart von Personen fallen lassen, die Ahnzhelyks Beruf ausüben.«
Staynair riss die Augen auf. Mehrere Momente lang saß er nur schweigend da und blickte Adorai Dynnys an. Schließlich fand er die Sprache wieder.
»Das ist ein ... außergewöhnliches Angebot.«
»Sie ist eine außergewöhnliche Frau, Euer Eminenz«, gab Adorai nur zurück.
»Das glaube ich gern, allein schon anhand dessen, was Sie mir bislang erzählt haben. Dennoch muss ich gestehen, dass ich verwirrt bin.«
»Wegen der Frage, weswegen sie sich Euch als Spionin der Kirche von Charis anbietet? Oder weswegen sie derartige Aufzeichnungen überhaupt erst angefertigt hat?«
»Um ehrlich zu sein: beides.«
»Euer Eminenz, Nynian hatte noch nie Grund, den großen Kirchendynastien gegenüber loyal zu sein - anderes mag für einzelne Mitglieder dieser Dynastien gelten: zum Beispiel für meine Eltern und mich. Aber selbst wenn die Kirche des Verheißenen Nynian irgendwann
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