Cedars Hollow (German Edition)
gerunzelter Stirn in die Kamera blickte. Der Mann war sehr groß, hatte dunkles Haar und stechende Augen. Ich drehte das Foto um und betrachtete noch einmal die Rückseite. In winziger Schnörke l schrift stand dort ein Datum geschrieben: 23. März 1938 .
„Wer sind die Menschen auf dem Foto?“
Baltazar schnaubte trocken und warf mir einen ungläubigen Blick zu. „Meine Eltern und ich.“
Ich überlegte, ob er sich vielleicht über mich lustig machte. Ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen, dass es Wesen geben sollte, die seit Jahrzehnten lebten, ohne zu altern.
„Das ist nicht dein Ernst“, brachte ich hervor, ehe mir die Stimme versagte.
Baltazar musterte mich mit gerunzelter Stirn. Er schien nicht zu wissen, ob er mich für voll nehmen sollte. Möglicherweise hielt er mich für nicht ganz zurechnungsfähig.
„Doch, es ist mein Ernst“, sagte er schließlich. „Der Junge auf dem Foto bin ich. Ich war damals vier Jahre alt.“
Sein starrer Gesichtsausdruck sagte mir, dass er keine Scherze machte. „Was ist mit deinen Eltern passiert?“, fragte ich ihn und warf erneut einen Blick auf die Fotografie. Der Junge auf dem Bild hatte kaum Ähnlichkeit mit der Person, die in diesem Augenblick an einem Tisch mit mir saß. Sein Gesichtsausdruck war nicht annähernd so unnahbar und düster, und seine Augen waren noch nicht die schla n genartigen Schlitze. Ich streckte meine Hand aus und gab Baltazar das Foto z u rück. Er grinste, was seine blanken, scharfen Zähne zum Vo r schein brachte.
„Sie sind vor langer Zeit gestorben. Nein, lass mich etwas präziser werden: Sie starben am vierzehnten November 1940, zwei Jahre, nachdem dieses Foto aufgenommen wurde.“ Er machte eine Pause, dann fuhr er mit bedeutungsvoller Stimme fort: „Wir lebten in C o ventry.“
Ich verstand, von was er sprach, und meine Züge erstarrten. S o wohl Ort, als auch Datum sagten mir genug. Er brauchte mir nicht zu erklären, was seine letzte Andeutung zu sagen hatte.
„Oh“, brachte ich hervor.
„Ja.“ Baltazars stechende Augen durchbohrten mich. Plötzlich e r kannte ich, wie ähnlich er seinem Vater sah. Wieso hatte ich da s nicht früher bemerkt?
„Deine Eltern starben während des Bombenangriffs?“
„Sehr richtig.“ Mich überraschte, dass seine Stimme immer noch so kalt klang. War die Erinnerung an sein früheres Leben nicht schmerzhaft für ihn?
„Es ist schon so lange her, dass ich fast vergessen habe, wie es war“, erklärte er. „Ich erinnere mich bloß an den Schmerz, an sonst nichts.“
Inzwischen überraschte es mich nicht mehr, dass er in der Lage zu sein schien, meine Gedanken zu lesen. Ich zögerte, weil ich nicht wusste, ob ich ihm Fragen stellen durfte oder nicht. Schließlich en t schied ich, es einfach zu ve r suchen.
„Was hast du getan? Ich meine, ohne Eltern?“
„Ich wurde aus Coventry fortgebracht und in ein Waisenhaus g e steckt. Dort verbrachte ich mein gesamtes, menschliches Leben, erst als Waisenjunge wie alle anderen, später als Betreuer und Lehrer. Das Waisenhaus war meine Welt; ich hatte nie etwas anderes gesehen und sehnte mich auch nicht danach.“
Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, ich konnte mir Baltazar unmöglich als Betreuer von Waisenkindern vorstellen. Ich hatte ihn wohl völlig falsch eingeschätzt, denn ganz offensichtlich steckte mehr in ihm, als der äußere Anschein vermuten ließ.
„Wie wurdest du zum Vampir?“, fragte ich zögerlich.
„Ich war vierundzwanzig. Eines Nachts hörte ich ein Kratzen an der Fensterscheibe meines Schlafzimmers. Ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten, denn für mich sind sie längst Teil eines anderen Lebens und einer anderen Person. Aber ich weiß noch, dass ich ein Knarren hörte und sah, wie sich ein langer Schatten in meine Richtung bewegte. Was danach passierte, weiß ich nicht, aber als ich wi e der zu mir kam, war ich nicht mehr der Alte.“
Ich zögerte. „Du weißt also nicht, wer es war, der dich verwandelt hat? Er hat dich einfach zurückgelassen?“
„Ja.“ Baltazar hielt inne. „Mit Sicherheit hat Corvus dir bereits e r zählt, dass ein solches Verhalten sowohl grausam als auch nachlässig ist. Wäre da nicht die starke Persönlichkeit gewesen, die in mir schlummerte, säße ich jetzt nicht hier.“
Ich biss mir auf die Unterlippe. „Was hast du getan, nachdem dir klar geworden war, dass du kein Mensch mehr warst?“
„Ich bin fortgelaufen, sobald ich bemerkte, was für eine
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