Cedars Hollow (German Edition)
Gefahr ich darstellte – für jede einzelne Person im Waisenhaus, aber vor allem für die Kinder. Ich spürte die Gier nach Blut in meinen Eingeweiden brennen. Ich hielt es nicht aus, also floh ich, ehe ich vollständig die Kontrolle über mich verlor.“
Ich räusperte mich. „Und dann?“
Baltazar schüttelte den Kopf; er schien nicht gewillt zu sein, noch mehr zu erzählen. „Was danach passiert ist, ist es nicht wert, berichtet zu werden. Ich habe Jahrzehnte durchlebt; viele Jahre verstrichen ereignislos, andere werde ich nicht so schnell vergessen.“
Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, der mich unmitte l bar an die Nacht erinnerte, in der er den verletzten Jungen auf der Straße g e funden hatte und nicht gewillt gewesen war, etwas zu unte r nehmen, um ihm zu helfen. Ich zögerte kurz, dann nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte ihn danach. Ich wollte unbedingt wissen, was an diesem Abend in ihm vorgegangen war und warum er Corvus gege n über so abweisend gewesen war. Baltazars Züge wirkten wie eingefroren, und er blinzelte nicht. Vie l leicht hatte ich einen Fehler begangen; vielleicht hätte ich besser nicht fragen sollen.
„Tut mir leid“, sagte ich schnell. „Ich hätte nicht so neugierig sein sollen.“
„Schon in Ordnung“, entgegnete Baltazar. „Wenn es dich so bre n nend interessiert, werde ich es dir eben erzählen. Es macht jetzt s o wieso keinen Unterschied mehr.“ Er presste die Lippen aufeinander, und ich sah, wie seine Kiefermuskeln sich anspannten.
„Mir ist einmal etwas sehr Ähnliches passiert wie die Sache mit dem verletzten Jungen“, sagte er. „Es geschah in London im Jahr 1969. Ich fand ein junges Mädchen verlassen in einer Gasse liegen; es war schwer verletzt und offensichtlich Opfer eines Überfalls oder schlimmerem. Ich alarmierte die Polizei und den Notdienst, und dann beging ich den Fehler meines Lebens: Ich blieb bei dem Mädchen, bis die Polizisten und Ärzte eintrafen. Sie verdäc h tigten mich, wollten mich verhaften. Ihr Menschen seid nicht dumm – ihr durchschaut Personen, die anders sind als ihr selbst, W e sen wie mich oder Corvus oder Damon. Sie müssen das Monster, den Mörder in mir gesehen haben, also wollten diese Wahnsinnigen mich nicht gehen lassen. Nie zuvor war ich O p fer eines solchen Hasses gewesen, eines Hasses, der selbst jema n den wie mich hätte zermürben können, wenn ich ihm auf Dauer ausgeli e fert gewesen wäre.“
Ich bemerkte, dass ich den Atem angehalten hatte, während er sprach, und atmete jetzt hastig ein. „Was hast du getan?“
Baltazar lächelte. „Ich habe mich aus dem Staub gemacht, ehe einer von ihnen mich vermissen konnte. Aber seit diesem Tag halte ich mich von euch Menschen fern, so gut es geht, und ich werde niemals wieder das Wohl eines Menschen über mein eigenes stellen.“
Ich nickte langsam. Ich konnte nachvollziehen, was er meinte, o b wohl ich eine solche Aussage nicht von ihm erwartet hätte. Obwohl er mir kühl erschien, hatte ich doch auch den Eindruck gewonnen, dass er einfühlsam und rücksichtsvoll sein konnte, wenn er nur wol l te.
Baltazar blickte mich eine ganze Weile regungslos an, dann erhob er sich ganz plötzlich. „Ich muss fort“, sagte er und wirbelte auf dem Absatz herum. Die Fotografie verschwand in der Brusttasche seines schwarzen Hemdes.
Ehe ich mich von ihm verabschieden konnte, war er bereits durch die Küchentür verschwunden.
Ich dachte eine ganze Weile über Ba l tazar und das Erzählte nach, und auch Fetzen des Gesprächs mit Damon am Tag zuvor zuckten immer wieder durch mein Hirn. Gleich zweimal hintereinander hatte man sich mir nun anvertraut; das war eine Erfahrung, die ich erst einmal vera r beiten musste, denn so etwas war mir noch nie zuvor passiert. Zwei Mal an zwei Tagen! Hätte ich nicht an Zufälle geglaubt, hätte ich darin etwas Schicksalhaftes gesehen.
Irgendwann kam Damon in die Küche. Ich ließ mir nicht anme r ken, dass ich mit Baltazar gesprochen hatte, oder zumindest versuc h te ich es. Ich glaube, Damon war an diesem Morgen etwas weggetr e ten, denn er bemerkte tatsächlich nichts.
Wir wechselten ein paar Worte, während ich eine Kleinigkeit früh s tückte. Dann machten wir uns gemeinsam auf den Weg zur Schule.
Der Tag verlief ziemlich eintönig, und als die letzte Stunde endlich geschafft war, machte ich mich erschöpft auf den Heimweg. Damon wollte mich zurückhalten und mich dazu überreden, auch diese Nacht in der Apple Tree Lane zu
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