Cevdet und seine Soehne
ist nicht so gesprächig wie sein Vater, und
etwas Väterliches hat er schon gar nicht an sich und wird er auch nie haben.
Ich bin nicht nur neugierig auf seine Gedanken, ich fürchte mich auch davor
…« Am Morgen war Osman auch nicht zum Gebet in die Moschee gegangen. Nicht
dass Nigân fromm gewesen wäre, aber dass jemand von der Familie zum
Feiertagsgebet ging, das gehörte sich ganz einfach. Beim Zuckerfest war er noch
gegangen, warum also nicht jetzt? Und dann dieser Streit gestern mit seiner Frau.
Nachdem Nigân sich eine Weile Sorgen um ihren älteren Sohn gemacht hatte, kam
ihr den Sinn, dass der jüngere eigentlich eine viel größere Quelle des Kummers
war, und es sank ihr nun erst recht der Mut. Nein, nicht der Bart war das
wirklich Irritierende an Refık, sondern hinter diesem Bart verbarg sich
noch etwas anderes, doch dem auf den Grund zu gehen wäre äußerst unerfreulich
gewesen. Und außerdem wollte sie endlich dieses Schweigen brechen. Sie
schluckte ihren Bissen hinunter und fragte dann: »Na, wie findet ihr das
Fleisch?«
»Fett!«
Das kam von Ayşe. Sie wusste
genau, wie sie ihre Mutter ärgern konnte. Nigân hätte am liebsten
losgeschimpft, aber sie selbst hatte ja die Frage gestellt. Außerdem musste das
Kind Gelegenheit bekommen, sich auszudrücken, denn seit dem Tod ihres Vater
brachte sie kaum noch den Mund auf. So sagte Nigân nichts zu ihr. Auch sonst
sagte keiner etwas. Man hörte wieder nur Essgeräusche und Besteckgeklapper.
»Warum sind wir bloß so geworden?«
fragte sich Nigân. »Das liegt nur daran, dass Cevdet nicht mehr da ist!« Das
erklärte aber nicht alles. »Warum sind alle so still? So ganz in die eigene
Welt versunken?« Obwohl sie Refık nicht direkt ansah, spürte sie geradezu,
wie sich zusammen mit seinem langsam mahlenden Kiefer auch dieser nervtötende
schwarze Fleck auf und ab bewegte. »Warum geht der Junge schon ewig nicht zur
Arbeit und sitzt nur griesgrämig herum? Ist das vielleicht ein Leben? Erst war
er krank, aber jetzt? Ob er wohl wieder in Ordnung ist? Und wenn er nun nach
dem Bayram wieder nicht zur Arbeit geht und sich auch diesen Bart nicht scheren
lässt?«
Verkrampft erkundigte sich Nigân:
»Dir geht es doch gut, Refık, ja?« Gleich darauf erschien es ihr jedoch
fehl am Platz, bei einem Festtagsessen so etwas zu fragen.
»Jaja, Mama, sehr gut!« erwiderte
Refık ziemlich schroff. Der Bart wippte auf und ab dabei.
Nigân dachte: »Er wird schon zur
Arbeit gehen!« Sie sah zu, wie der Servierteller abgeräumt und feierlich der
Spinat in Olivenöl herbeigetragen wurde. Man wechselte die Teller. Draußen
hörte man eine Trambahn über den Platz quietschen. »Immer noch dieses
Schweigen!« dachte Nigân. Dann aber sagte sie sich, dass sie vielleicht zuviel
Aufhebens davon machte, und verlor sich selbst in Gedanken. Am Nachmittag würde
sie zu Cevdets Grab gehen und am nächsten Tag ihre Schwestern besuchen. Zu
jedem Bayram trafen die drei Schwestern sich im Konak ihres verstorbenen
Vaters. Sükran und Türkân brachten dazu auch ihre Familien mit, doch Cevdet war
nie dazu zu bewegen gewesen. Er hatte nur immer geknurrt, er möge diesen
Paşakonak nicht, und dieser Konak möge auch ihn nicht. Einmal hatte er am
Bayram unter Liköreinfluss ausgerufen: »Ich bin ein einfacher Kaufmann, also
gehe ich da nicht hin!« und sich gleich danach übergeben. Wütend auf ihren
betrunkenen Kaufmannsgatten, der sich nach ihrem Festtagsessen erbrach und die
Schuld daran auf das zu frische Fleisch schob, war Nigân damals in ihr
Vaterhaus geflüchtet und hatte sich ausgeweint. Das war nun auch nicht gerade
eine schöne Erinnerung. Nigân wünschte sich Fröhlicheres, Glücklicheres in
ihrem Leben, und wenn solches schon nicht unmittelbar zu haben war, dann sollte
man sich doch wenigstens darauf freuen können. Vielleicht war ja diese freudige
Erwartung, in der die Zeit wie eine tickende Uhr dahinging, eigentlich schöner
als das Erwartete selbst, aber man konnte ja auch nicht einfach nur so ins
Blaue hinein warten. Nun jedenfalls saß sie schweigend da und wartete darauf,
dass jemand etwas sagte, etwas Schönes und Angenehmes nach Möglichkeit, und sie
wartete auch auf das Orangendessert, das Nuri gleich bringen würde. Sie dachte
noch, dass sie doch das passende Kleid angezogen hatte und von dem blauen
Service mit den blauen Rosen auch dieses Jahr wieder eine Tasse entzweigehen
würde, da hörte sie auch schon Nuris Schritte. Sie drehte sich um, im Glauben,
er
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