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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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Anlass mehr …
    5. Februar 1938
    Ich habe mein
Tagebuch noch einmal durchgelesen. Mein eigentliches Leben spiegelt sich darin
nicht wider. Die meiste Zeit verbringe ich nämlich mit Perihan, mit meinen
Neffen und Nichten, mit Ayşe und meiner Mutter, wir schwatzen und
beschäftigen uns mit irgendwelchen Belanglosigkeiten. Das kommt hier gar nicht
zum Ausdruck. Und mit meinen Gedanken und Sorgen ist es nicht anders. Ich denke
an tausenderlei Kleinigkeiten, ganz wild durcheinander, das meiste davon ist
todlangweilig. Ich war noch immer nicht in der Firma; das verschiebe ich auf
nach den Feiertagen. Nach dem Opferfest … Dann lasse ich mir auch diesen Bart
abrasieren. Da dieses Tagebuch nicht die Realität abbildet, werde ich nicht
daran weiterschreiben. Ich bin mir beim Schreiben sowieso immer wie ein
Heuchler vorgekommen. Draußen im Garten sind die Schafe angebunden, die zum
Opferfest geschlachtet werden; immer wieder höre ich sie blöken. Osman und
Nermin haben heute gestritten. Es herrscht eine schlechte Stimmung im Haus. Ich
brauche nicht weiterzuschreiben … Denn es tut sich nichts Neues …

23
  WIEDER EIN BAYRAM
    Nuri trug feierlich den Servierteller herein. Nigân
blickte zwar nicht hin, aber dennoch sah sie förmlich vor sich, wie der Koch
wieder auf Zehenspitzen ging. Alle am Tisch saßen in gespannter Erwartung da. Nuri
beugte sich vor und stellte den großen Teller auf den Tisch. Es war der
vergoldete Servierteller, den Nigân zwei Jahre zuvor hatte aus dem Buffet holen
lassen. Es waren wieder Reistürmchen darauf aufgebaut, und es fehlten auch die
Erbsen nicht, die deren Zinnen schmückten. Es fehlte nichts und niemand außer
Cevdet, und von dem hing im Esszimmer ein großes Foto, wie übrigens auch im
Salon, im Perlmuttzimmer und im Arbeitszimmer, und Osman hatte gesagt, auch in
der Firma habe er mehrere Fotos von ihm aufhängen lassen. Nigân näherte ihr
Gesicht der Wärme, die von dem Tisch ausging, nicht nur vom Servierteller,
sondern auch von der festtäglichen Stimmung, der ganzen Aufregung, dem
sorgfältig bewahrten Familienglück. Nigân wollte, dass auch die anderen das spürten;
sie gab sich der Überzeugung hin, dass alles perfekt war, und wartete schon auf
den unvergleichlichen Moment, in dem sie selig blinzeln würde, und sie war sich
dessen auch bewusst, doch leider sah sie vor sich immer Refıks
fürchterlichen Bart.
    »Wer serviert diesmal?« fragte
Osman. Doch gleich gab er sich selber Antwort und hielt die Löffel seiner Frau
hin: »Mach du das doch!«
    Und Nermin begann zu servieren.
Draußen war es kalt, aber trocken und sonnig. Man schrieb die erste
Februarwoche. Nigân beobachtete ihre Schwiegertochter, die einen stolzen,
entschlossenen Eindruck machte. Auch etwas unleidlich wirkte sie. Am Vortag
hatte sie mit Osman gestritten. Neben Nermin saß die zehnjährige Lâle, daneben
der achtjährige Cemil. Den Platz neben ihm hatte man freigelassen, denn dort
hatte immer Cevdet gesessen; nun war auch kein Stuhl dorthin gestellt worden.
Neben dieser Lücke saß Ayşe. Nigân sah aus dem Augenwinkel heraus, wie
wenig Reis sie sich auf den Teller gehäuft hatte, doch sagte sie
nichts. Zu Nigâns anderer Seite saß Perihan und jener gegenüber Osman. Direkt
gegenüber sich hatte sie Refık, dessen Bart sie wirklich grauenhaft fand.
    Sie ging mit sich selber ins
Gericht. »Man darf doch einen Menschen, und noch dazu seinen eigenen Sohn,
nicht nur deshalb hässlich finden, weil er einen Bart trägt! Im Haus meines
Vaters trugen alle Männer Bart, spätestens jenseits der Vierzig. Aber das war
eine andere Zeit, und es waren andere Menschen!« Das musste sie sich in den
letzten Tagen oft sagen, wenn sie im Haus herumging, ihren Tee trank, nach
Beyoğlu oder zu einer Einladung unterwegs war und ihr wieder dieser
vermaledeite Bart einfiel. Als sie nun wieder ihre Wut in sich hochsteigen
fühlte, bekämpfte sie diese sogleich mit dem Gedanken, dass bei einem Feiertagsessen
nun wahrlich nicht kalter Groll angebracht war, sondern warmherzige Freude. Da
merkte sie erst, wie still es bei Tisch war. Keiner sagte etwas, jeder war nur
mit dem Essen und mit sich selbst beschäftigt. Cevdet pflegte in solchen Fällen
mit listigen Scherzchen das Schweigen zu brechen, so dass niemand nur vor sich
hin brütete. Diese Aufgabe hätte nun eigentlich Osman übernehmen sollen, aber
der schien ganz anderes im Kopf zu haben. »Ich würde ja zu gern wissen, an was
er so denkt«, überlegte Nigân. »Er

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