Cevdet und seine Soehne
bringe das Dessert, doch Nuri hielt ihr statt dessen zwei Kuverts hin.
Ungeduldig riss sie das erste auf.
Es war eine Glückwunschkarte von dem Buchhalter Sadık, mit dem Emblem des
Türkischen Luftfahrtvereins. Ohne die Karte zu lesen, reichte sie sie an Osman
weiter. Als sie den zweiten Brief öffnete, ahnte sie schon, dass er von diesem
Neffen stammte, der beim Militär war. »Liebe Tante, Sie haben mir das Geld, das
mein Onkel mir vermacht hat, immer noch nicht geschickt. Weder zu dem Geld noch
zu dem Grundbesitz haben Sie sich irgendwie geäußert. Mein Anrecht darauf
bleibt jedoch unverändert bestehen. Mit meinen besten Feiertagswünschen
verbleibe ich herzlichst …« Nigân wurde wütend. »Der Junge ist doch
verrückt!« Schon zum Zuckerfest hatte er eine solche Karte geschickt und damit
alle verblüfft. Cevdets Testament war völlig eindeutig: Er hatte seinem Neffen
nichts hinterlassen. Auch in seinen Papieren hatte sich kein Hinweis auf ein etwaiges
Erbe gefunden. Es konnte auch gar nicht anders sein. Dennoch hatte Osman Ziya
einen höflichen Brief geschrieben und ihn nach der Ursache für seine Ansprüche
gefragt, aber darauf keine Antwort bekommen.
»Er ist einfach verrückt!« Sie las die Karte nochmals durch. In dem
vorhergehenden Schreiben war lediglich von Geld die Rede gewesen, und nun
plötzlich auch von Grundbesitz. Dass er sich das alles aus den Fingern sog, war
klar, doch wie besaß er nur die Frechheit dazu? Nigân gab die Karte Osman und beobachtete
dann sein Mienenspiel, während er die Karte las. Als sie merkte, wie wütend
auch er wurde, dachte sie: »Appetit habe ich jetzt keinen mehr!« Dabei stand
das Orangendessert mittlerweile auf dem Tisch.
Osman reichte die Karte nicht etwa
an Refık weiter, sondern zerriss sie in kleine Fetzen, die er sogleich
Nuri übergab. »Der Kerl muss völlig übergeschnappt sein!«
»Wer?« fragte Refık. »Ziya?«
»Wenn wir jedem hergelaufenen Soldaten
was geben würden, hätten wir es mit Firma und Familie nie so weit gebracht!«
Diese Wort und der Eifer, mit dem
sie gesprochen waren, taten Nigân gut. So war sie also, auf ganz unerwartete
Weise, doch noch zu dem ersehnten Glücksgefühl gekommen. »Der Junge mag
beschaffen sein, wie er mag, aber er hängt genauso an der Familie und am Leben
wie sein Vater!« Sie dachte an die Zeit zurück, als Ziya bei ihnen im Haus
lebte. Im dritten Jahr ihrer Ehe, als Sultan Abdülhamit abgesetzt worden war
und sich erwies, dass Cevdet sich gut mit Abdülhamits Gegnern stand, kam eines
Tages ein Politik treibender Militär ins Haus, und Ziya, der beim Essen den
Mann ständig anstarrte, erklärte danach, er wolle selber Soldat werden. Nigân
hatte sich darüber gefreut; endlich würde sie diesen verschreckten,
kleinmütigen Jungen loswerden, der sie immer so schräg von unten anblickte und
nie so auftrat, als ob er zur Familie gehörte, sondern eher wie ein Dienstbote,
und doch immer um sie herum war. Auch Cevdet hatte sich wohl gefreut damals.
Aber sie wollte gar nicht daran zurückdenken, so wie sie überhaupt an den
Jungen, der nun ein ausgewachsener Soldat war, nur sehr ungern dachte. Und das
Orangendessert stand noch immer unangetastet da.
Osman wiederholte: »Wenn wir jedem
hergelaufenen Soldaten was geben würden …«, nun aber leiser, als könnte da
irgendwo jemand mithören. Dann machte er eine Kunstpause, und als er spürte,
dass ihm jedermann aufmerksam lauschte und seine Wut und seine Resolutheit
würdigte, sagte er: »Da meinen manche, dass Geld sich so leicht verdienen
lässt! Die wissen ja gar nicht, was es alles braucht, damit man Geld verdienen,
sich an diesen Tisch setzen und so einen Haushalt in Schwung halten kann!«
»Er ist noch entschlossener als sein
Vater!« dachte Nigân. »Sogar so entschlossen, dass er meint, ihm sei gleich
alles zu verdanken! Aber jetzt sollte endlich Schluss sein mit diesem
unerfreulichen Thema.«
»Keine Ahnung haben die, wie man
Geld verdient!« erregte sich Osman immer noch. Dann wandte er sich zu
Refık: »Du kommst doch nach dem Bayram wieder ins Geschäft, oder?«
Der verblüffte Refık stammelte:
»Ja doch, ja, klar komme ich!«
Nigân freute sich, dass nun auch das
geklärt war. Jetzt fehlte nur noch eins, und der Moment war günstig, um auch das
noch anzusprechen: »Bevor wir heute nachmittag zum Grab eures Vaters gehen, da
schneidest du doch diesen Bart ab, ja?« Sie sagte das so mütterlich-sanft wie
nur möglich. »Du tust mir doch diesen Gefallen,
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